Jüdisches Leben in Deutschland
"75 Jahre nach Auschwitz" blickt man entsetzt auf das Erstarken des Antisemitismus in diesem Land. Und nicht weniger fassungslos darauf, wie wenig die Bevölkerungsmehrheit von ihren jüdischen Mitbürgern weiß. Nicht nur von denen "damals" ... Ein krasses Beispiel erlebten wir mit der jüngsten Aktion des "Zentrums für Politische Schönheit". Vermutlich gut gemeint, aber de facto eine groteske Beleidigung derjenigen, die man doch eigentlich ehren wollte.
Anlass für mich, einen Artikel der Autorin Mirna Funk hier einzustellen und ihre Kolumne "Jüdisch heute" sehr zu empfehlen.
© Sam Nixon / © ArtPartner
KOLUMNE: "JÜDISCH HEUTE"
Der Körper als Leihgabe: Mirna Funk über die Bedeutung des Körpers im Judentum
Von Mirna Funk16. Dezember 2019
Dem Körper kommt im Judentum eine besondere Bedeutung bei. Er wird als Leihgabe Gottes gesehen. Warum die Aktion "Sucht nach uns" des Zentrums für Politische Schönheit deshalb ein Problem darstellt, erklärt Mirna Funk in diesem Text.
Mirna Funk über die Bedeutung des Körpers im Judentum
Ich saß neben meinem Freund Avi. Er sang laut zu "Hey" von den Pixies mit. Wir hatten die Scheiben seines weißen Subaru-Pick-ups heruntergekurbelt, weil das Auto keine Klimaanlage hatte. Draußen waren 45 Grad. Er jagte durch die israelische Landschaft. Ein Teppich, gewebt aus monochromem Beige. Jedes Sandkorn und jedes verwelkte Blatt changiert irgendwo zwischen Hellgelb und Dunkelgelb. Denselben Farbverlauf entdeckte ich auch in den Grabsteinen, die mit einem Mal neben uns auftauchten. Bis zum Horizont erstreckten sie sich. Ich sagte: "Meine Güte, was für ein riesiger Friedhof!", und er antwortete nur: "Na ja, kleiner wird der nicht mehr, sondern eben immer größer. Irgendwann ist Israel ein einziger riesiger Friedhof." Ich verstand sofort warum.
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Dem Körper kommt im Judentum eine besondere Bedeutung bei. Er wird als Leihgabe G'ttes gesehen. Deswegen sollte man ihn so unversehrt wie möglich an diesen zurückgegeben. Aus diesem Grund sind Tattoos und Piercings auch unerwünscht. Ist ein Mensch gestorben, werden Kerzen angezündet. Die Beerdigung selbst muss innerhalb von 24 Stunden stattfinden. In Deutschland wäre so etwas unmöglich. Bis zur Bestattung dauert es mitunter sechs Wochen. Der Körper liegt derweil in einer Gefriertruhe. Eine absolute Unmöglichkeit im Judentum.
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Ein Jude wird für seine Beerdigung entweder in ein Baumwoll-/Leinengewand gehüllt oder in einen einfachen Sarg (bei Sargpflicht) gelegt und in die Erde gelassen. Eine männliche Person erhält zudem eine Kippa (die jüdische Kopfbedeckung) und den Tallit (Gebetsschal). Am Tallit hängen normalerweise die Zizit, das sind Gebetsfäden, die an die religiösen Pflichten erinnern sollen. Beim Toten sind sie abgeschnitten, weil er von diesen befreit ist.
Um nach jüdischem Ritus in der kommenden Welt (Olam Ha-Ba) wieder auferstehen zu können, dürfen Juden nicht verbrannt werden. Umso schrecklicher ist, dass Millionen von ihnen als Asche endeten. Deshalb fand auch eine dreifache Entweihung der Juden während des Holocausts statt: die Entwürdigung im Lager (Tätowierung der Nummer), die systematische Ermordung (kein natürlicher Tod) und die anschließende Verbrennung (im Judentum verboten).
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Unwissenheit tut weh
In den letzten Tagen gab es viel mediale Aufmerksamkeit und Aufruhr wegen der Aktion "Sucht nach uns" des Zentrums für Politische Schönheit. Die InitiatorInnen hatten monatelang in der Nähe von ehemaligen Konzentrationslagern nach der Asche von NS-Opfern gesucht und diese durch Bohrungen freigelegt. Die Bodenproben wurden in Labore geschickt und auf menschliche Überreste getestet. Die Proben, die positiv getestet wurden, hat man anschließend in eine 2,5 Meter hohe Stele gefüllt und vor dem Reichstag aufgestellt. Ein Signal gegen die rechtspopulistische Partei AfD sollte diese sogenannte Widerstandsstele sein, eine Kampfansage an die sich veränderte politische Situation in Deutschland.
Was das ZPS nicht bedacht hatte, war, vorab jüdische Institutionen und Verbände nach ihrer Position zu fragen. Und was das ZPS auch nicht recherchiert hatte, war, dass es im Judentum eine Totenruhe auf Ewigkeit gibt. Das heißt, jüdische Gräber werden nicht, wie es in Deutschland auf nicht jüdischen Friedhöfen üblich ist, gemietet. Nicht für 20, 40 oder 60 Jahre. Wer einmal beerdigt wurde, liegt dort für immer. Deswegen findet man auf den jüdischen Friedhöfen in Europa Gräber, die Hunderte Jahre alt sind.
Neben der Instrumentalisierung der Opfer für ein mehr als fragwürdiges Kunstprojekt hat das ZPS vor allem die religiösen Gesetze und die tief verankerte jüdische Tradition missachtet. Die Argumentationsweise, die in den letzten Tagen laut wurde, man solle sich da nicht so haben, vielleicht würden die Opfer lieber als Asche in einer Stele landen, als auf einem Feld oder in einem Wald zu liegen, zeugt weiterhin von der unglaublichen Ignoranz anderen Kulturen und Riten gegenüber. Mit aggressivem Humanismus, den das ZPS propagiert, hat das rein gar nichts zu tun.
Die Bedeutung, die der Körper, ob tot oder lebendig, im Judentum hat, unterscheidet sich gravierend und grundlegend von einer säkularen oder sogar christlichen Sichtweise. Es gibt eine Organisation in Israel, die sich "Chesed shel emet" nennt und aus Freiwilligen zusammensetzt. Diese sammeln nach Terroranschlägen die zersprengten Körperteile ein.
Nach Nägeln, Haaren, Hautteilen und sogar Blut wird bis zur Erschöpfung gesucht, um den Toten gerecht zu werden und sie so unversehrt wie möglich an G'tt zurückzugeben. "Cheset shel emet" ist hebräisch und geht auf den Begriff der "guten Tat" zurück. Eine Tat, die man den Toten widmet, wird als wahrhaft gute Tat angesehen, weil sie per se altruistisch ist. Also zweckfrei. Der jüdische Körper ist nach seinem Tod nicht wertlos. Er hat denselben Wert, den er auch lebend hatte. Im Falle der Opfer des Holocausts, die sich nicht freiwillig verbrennen ließen, wird die Asche als ihr Körper angesehen.
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Vor zwei Tagen telefonierte ich mit Avi und erzählte ihm von der Aktion des ZPS. Er fragte schockiert: "Wie kommt man auf die Idee, Überreste wieder auszubuddeln?" Ich erklärte ihm, dass auch sonst in Deutschland Überreste wieder ausbuddelt werden, und zwar wenn die Miete für das Grab abläuft. Er antwortete: "Wie, die Miete für dein Grab? In Deutschland mietet man sein Grab? Du verarschst mich jetzt. Das glaube ich dir nicht!"
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Die Totenruhe gilt bei Juden für die Ewigkeit. Deswegen erleben viele von uns die Aktion des ZPS auch als einen Gewaltakt an den Opfern des Holocausts. Wir erwarten kein Verständnis für die Art und Weise, wie der Körper im Judentum geachtet wird, aber wir erwarten Anerkennung und Respekt für unsere Riten.
Quelle:vogue.de