Heinz K
„Kurzum: Man soll nicht von sich auf andere schließen?“
Dein „Kurzum“ ist mir zu kurzschlüssig für diese Parabel, die in ihrem Bildteil etwas erzählt, das wir auf unser Verhältnis zu „Wahrheit“ übertragen können.
Zunächst einmal ist von einem Tempel die Rede, der schwer erreichbar ist und imposant auf einem Berg liegt. Der heilige Ort enthält tausend Spiegel.
Nach dieser Einleitung ist anzunehmen, dass Menschen mühsam dorthin pilgern, um sich in diesen Spiegeln zu betrachten – nicht wie auf der Kirmes im Spiegelkabinett, um sich über die Verzerrungen zu amüsieren, nicht wie vor dem mehrseitigen Frisierspiegel, um das eigene Aussehen zu polieren, sondern um sich in diesem Saal von allen Seiten und immer wieder gespiegelt ein Bild von sich selbst zu machen.
Mich erinnert diese Situation an die Inschrift am Apollotempel in Delphi: „Gnothi seauton“ – „Erkenne dich selbst“.
Auf die Vielzahl der Spiegel bezogen, entwickelt diese Aufforderung verwirrende Ergebnisse: Was entdeckt der Mensch an seiner äußeren Gestalt, das ihm nicht gefällt? Die schütteren Haare, die zu dürren oder zu runden oder zu krummen Glieder, den zu dicken Bauch?
Äußerlichkeiten! Aber die inneren Vorzüge und natürlich auch Nachteile reflektieren die Spiegel nicht.
Nun hat der Mensch zu diesem Zeitpunkt schon den beschwerlichen Aufstieg zum Tempel bewältigt, deshalb beginnt er als Mensch jetzt darüber nachzudenken, was er denn den Spiegelbildern entgegensetzen kann. Wenn er Glück hat, fällt ihm der eine oder andere innere Wert ein, wenn nicht, wird es schwieriger. Entweder stürzt er sich gleich depressiv in die Tiefe oder er steigt geläutert und nachdenklich die Stufen in das reale Leben hinab.
Nun pilgern in der Parabel jedoch nicht Menschen, sondern zwei Hunde den Berg hinauf.Sie können nach hinduistischem Glauben ein ehemaliges oder zukünftiges menschliches atman (eine Seele) in sich tragen, aber zum Zeitpunkt ihres Tempelbesuchs sind sie Tiere.
Ohne Ahnung, was eine Spiegelung bedeutet, erblicken sie sich selbst tausendfach in vielfältigen Variationen.
Sich selbst dieser Masse gegenübergestellt, entwickelt der eine Hund Angst und daraus resultierend Aggression - der andere Hund hat offensichtlich genug Selbstvertrauen, dass er tausend Gleichartige freundlich und Schwanz wedelnd begrüßt.
Die Parabel lässt offen, warum der erste Hund sich nicht in tausendfacher Vervielfältigung ertragen kann.
Der Leser ahnt, dass das Tier vor sich selbst Angst hat.
Ich denke, Dein „Kurzum“ ist nicht mit einem allgemeinen „Man“ zu beantworten, sondern auch hier geht es wie in der von escape gestellten Frage, was die Wahrheit sei, um das subjektive Abwägen des Einzelnen.
In agrippinensis’ zitierter Parabel provoziert die Doppelbedeutung des Wortes „Reflexion“.
Einmal als bloße Widerspiegelung veranlasst sie den einen Hund ohne Nachdenken zu Angst- und Aggressionsgehabe, während der andere Hund ebenfalls reflexiv Zustimmung und Freundlichkeit signalisiert.
Andererseits hat der Mensch die Möglichkeit, die Widerspiegelung zu reflektieren. Seine „Reflexion“ – sein Nachdenken - über die Spiegelung und über sich selbst enthält die Freiheit, von sich auf andere zuschließen… oder auch nicht.