Das Beste und Differenzierteste, was ich seit Jahren zu diesem Thema gelesen habe - daher die Kopie in voller Länge:
Judentum: Nur in Deutschland
Jüdisches Leben soll in Deutschland florieren. Dabei werden echte jüdische Werte permanent angegriffen – und zwar von denen, die Juden angeblich beschützen wollen.
Ein Essay von Fabian Wolff 2. Mai 2021 (ZEIT-online)
ZitatAlles anzeigenNur in Deutschland
Ich mag es nicht, diesen Text auf Deutsch zu schreiben, manchmal empfinde ich Deutsch an sich als Belastung. Das klingt großspurig, nach einer declaration of a principle von einer Figur aus einer Kurzgeschichte von Cynthia Ozick, einem deutschjüdischen Assyrologen aus Freiburg vielleicht, der nach der Flucht in einem kleinen College im mittleren Westen im Exil darbt. Auch einfach überzogen für jemanden wie mich, noch knapp in Ost-Berlin geboren, der noch nie woanders als hier gelebt hat, aber immerhin letzten Februar sieben Tage in den USA war und auf einem parking lot vor einem Olive Garden kurz das Gefühl hatte, frei zu sein.
Der Grund für diese Anmaßung und die reale Entfremdung hinter ihr, aber auch die Zweifel, das ewige Gefangensein zwischen lautem Schreien und zauderndem Schweigen, ist einfach und, natürlich, komplex: Ich bin Jude in Deutschland. Um Maxim Biller, den harten Hund, zu zitieren: Jemand wie ich ist in diesem Land nicht vorgesehen, immer noch oder schon wieder, je nachdem.
Meine Familiengeschichte hat mir zwei Gepäckstücke vererbt: den berühmten gepackten Koffer unterm Bett. Und eine Reisetasche, ausgepackt im "Hotel Deutschland", dessen Buchung ich alle zwei Wochen verlängere wie Barton Fink. (Der sich immer zu wichtig nehmende Barton Fink, der als Autor vor lauter selbstgerechtem Idealismus keine Seite geschrieben bekommt – soll niemand sagen, dass ich mich nicht kenne.)
In diesen zwei Wochen durchlaufe ich oft den ewigen deutschen Trauerzyklus. Leugnen: Vielleicht gibt es ja hier doch Platz für mich, vielleicht werde ich doch verstanden? Verhandeln: "Verstanden werden" ist vielleicht zu viel verlangt, wer wird schon verstanden, aber man kann sich ja die Hand reichen? Wut: Warum ist in Deutschland alles so deutsch? Depression: Lebend komme ich hier nicht raus. Nur die Akzeptanz tritt, boruch hashem, nicht ein. Stattdessen folgt ein innerer Rückzug – ohne den Blick auf den Faschisten im Hotelzimmer nebenan zu verlieren, das unterscheidet mich von Barton Fink – in mein Jüdischsein.
Zu den Hohen Feiertagen gehe ich in die Synagoge. Dort wird im Ritus Hebräisch gesprochen, das ich nicht verstehe, das Kaddisch auf Aramäisch, das ich auswendig kann, und immer einen ungelenken Absatz lang Deutsch, ohne den mir nichts entgehen würde. Ansonsten findet mein jüdisches Leben auf Englisch statt, fernab der deutschen Gemeinde. Ich bin trotzdem Teil einer Community, mit Freund*innen und Genoss*innen in allen Teilen der USA, mit denen ich online rede, und mit meist amerikanischen Ex-Pats und linken Israelis in Berlin, dazu einigen Leute aus Deutschland, oft osteuropäischer Herkunft.
Unsere Gespräche drehen sich um jüdische Geschichte und jüdische Widersprüche, Uncut Gems und Hester Street, Chantal Akerman und Eyal Sivan, Albert Memmi und Susan Taubes, Sarah Schulman und Wassili Grossman, Ezra Furman und Rose Ausländer, um Zugehörigkeit und Fremdheit. Sie drehen sich um "die Deutschen", wie wir einfach alle Nicht-Jüdinnen*Juden aus Nichteinwandererfamilien, selbst Familienmitglieder, nennen und ihr Unverständnis, ihre komische Art, aber mehr noch um Frust über andere Jüdinnen*Juden: über die offizielle Repräsentation in jedem Land der Welt, also auch in Deutschland, über rechte Gemeindepolitik und starres Denken.
Es geht auch um Israel, um propagandistische Jugendreisen und die politische und soziale Realität in der Region. Es geht um Religion – einige meiner Freund*innen sind genuin observant, fast frum, und ich erlebe sie als weitaus flexibler und offener als viele weltliche Jüdinnen*Juden, deren Jüdischsein nur aus Popkultur und liberalen Phrasen besteht. Nur um Antisemitismus geht es eigentlich selten. Die Idee der Ausreise, des Weg-Hiers steht trotzdem oft im Raum. Es gibt viele verschiedene Arten, jemanden zu vertreiben.
Nicht einfach nur negatives Deutschsein
Diese Gespräche, wenn eine Freundin von der Upper West Side von fiesen jüdischen Mädchencliquen an ihrer alten Highschool erzählt oder ein linker israelischer Freund die Abgründe israelischer Shoah-Erinnerung aufzeigt, würden Deutsche verängstigen und verwirren, denke ich oft. Und fühle dann im nächsten Moment: Das ist dieses "jüdische Leben", von dem immer alle reden. Mir scheint genau das, zwischen Religion, Philosophie, Kultur und Politik unbedingt schützens- und fördernswert.
Es ist ein jüdisches Leben, das für sich selbst steht, autark, im Glauben daran, dass jüdische Geschichte nicht einfach nur die Geschichte davon ist, wie die nichtjüdische Umwelt sie geprägt hat, sondern dass sie zeigt, dass Jüdinnen und Juden sich selbst ermächtigen können, dass sie – wieso gibt es diesen Begriff nicht auf Deutsch? – agency hatten und haben.
Aus diesem Bewusstsein heraus entsteht die Fähigkeit, sich nicht nur in der jüdischen, sondern auch in der außerjüdischen Welt zu positionieren, Ungerechtigkeiten zu benennen und auch die eigene Beteiligung an ihnen zu erkennen. Es gibt Jüdinnen*Juden, die über nichts anderes als ihre eigene Diskriminierung und Marginalisierung als Jüdinnen*Juden sprechen. Auch das ist real, aber vielleicht liegt gerade im Sprechen und Handeln, als ob es sie nicht gibt, die Möglichkeit, sie wenigstens kurz zu transzendieren.
An diesem Punkt, der Idee der Selbstermächtigung, kommen zwei historische Strömungen zusammen, die der Diasporist*innen und der Zionist*innen. Zionist*innen glauben an ein jüdisches Kollektiv, das nur für sich steht, auch geografisch, die Diasporist*innen nicht an ein Aufgehen im Fremden, sondern an ein selbstbewusstes Leben in der Diaspora, die hier die ganze Welt meint.
Mein Jüdischsein endet deswegen nicht an den deutschen Grenzen, ist nicht einfach nur negatives Deutschsein. Daher sprechen mich die Versuche der letzten Jahre, eine neue radikale Jüdischkeit zu verkünden, auch nicht an. Was sich "desintegriert" nennt, kommt mir wie nur eine weitere platte Farce im deutsch-jüdischen Gedächtnistheater vor. Ich sehe genau, wo die Grenze des vermeintlich Sagbaren aufhört. Für diese Erkenntnis muss ich auch meinen Freund*innen aus den USA danken, weil sie mir früh "I get it, Deutschland und so, aber kannst du auch mal über etwas anderes reden?" gesagt haben, mich mit Ideen und Positionen und Wahrheit konfrontiert haben, die in Deutschland keinen Platz haben.
Die großen Irrtümer, von denen ich mich dabei verabschieden musste, sind folgende: dass Deutsche wissen, dass es dieses jüdische Leben außerhalb ihrer Wahrnehmung und Diskurse gibt. Dass sie anerkennen, ohne Sprecherpositionen zu fetischisieren oder festzuschreiben, dass jüdisches Sprechen über jüdische Themen eine andere Relevanz hat als das, was diese Deutschen selbst denken oder gern hören würden. Vor allem unabhängig davon, ob sie die Meinung teilen. Gerade dann.