Der verbale Schlagabtausch zwischen der Türkei und Deutschland -und vice versa- erinnert mich immer mehr an krakeelende Sandkastenschlachten um Schüppchen und Förmchen. Wenn's dabei nur nicht um Menschen ginge, die leichtfertig auf dem Altar protzender Rechthaberei geopfert werden ...
Statt markiger Worte, die gern verschleiern, wie prächtig die Waffengeschäfte zwischen beiden Ländern weiterhin laufen, wäre vielleicht einmal angezeigt, nicht auf jede Provokation zu reagieren und sich mehr mit den (Hinter-)Gründen der Erdoğan'schen Politik zu befassen. Das täte nicht nur unserem Geschichtswissen gut, es könnte auch helfen, Beweggründe und Vorgehensweisen der neueren türkischen Politik besser zu verstehen, sie einzukalkulieren und ihnen zu begegnen.
ZitatAlles anzeigenManipulativ verklärtes Osmanentum
Erdogan und die Sultane
Gastkommentar von Oliver Jens Schmitt 11.9.2017, 05:30 Uhr
Bei seiner konservativen Revolution in der Türkei setzt Recep Erdogan auf die Idealisierung der Vergangenheit. Dabei ging das Osmanische Reich ausgerechnet an jenem politischen Islamismus zugrunde, den er propagiert.
Abdul Hamid II (1876–1909), der letzte echte osmanische Sultan, ist eines von Erdogans Vorbildern. (Bild Ullstein)
«Fetih, der Eroberer», heisst ein 2012 gedrehter Film, der mit 16 Millionen Dollar Produktionskosten zu den teuersten Filmprojekten der modernen Türkei gehört. In üppigen Bildern und Computeranimationen feiert er die Eroberung Konstantinopels durch den osmanischen Sultan Mehmed II. am 29. Mai 1453. Als er in die Kinos kam, wunderten sich westliche Beobachter über die offenkundige Geschichtsklitterung und den stark islamischen Unterton der Darstellung. Zeitgleich eroberte die türkische Fernsehserie «Das prächtige Jahrhundert», auch als «Süleyman der Prächtige» bekannt, Zuschauer in 47 Ländern des Balkans und des Orients. Sie vermittelt ein opulentes Bild des Imperiums im 16. Jahrhundert.
In der Rückschau kann dies als Instrumentalisierung imperialer Vergangenheit durch die in Ankara herrschenden Islamisten verstanden werden. Neo-Osmanismus ist dabei das Schlagwort, mit dem die Politik der regierenden AKP oft beschrieben wird. In Verbindung gebracht wird es mit dem früheren Aussenminister Ahmet Davutoglu, aber auch mit AKP-Propaganda nach innen. Was hat es damit in der türkischen Politik auf sich?
Glanz aus Versatzstücken
Wenn sie frühere Provinzen des Osmanischen Reiches bereisen, berufen sich türkische Spitzenpolitiker der Regierungspartei AKP seit Jahren auf dessen Erbe: Davutoglu verkündete 2009 in Bosnien, das Imperium sei eine Erfolgsgeschichte gewesen, die es zu erneuern gelte. 2013 erklärte Recep Tayyip Erdogan in Prizren, Kosovo sei die Türkei und die Türkei sei Kosovo. 2015 überführten türkische Soldaten die Gebeine des angeblichen Grossvaters des Dynastie-Gründers Osman aus Syrien in die Türkei. Derartige Akte begleiten eine verstärkte türkische Einflussnahme in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft von Nachfolgestaaten des Imperiums am Balkan und im Nahen Osten. Eine eigentliche neo-osmanische Doktrin für die Aussenpolitik hat die Türkei bisher aber nicht formuliert.
Davutoglu verkündete 2009 in Bosnien, das Imperium sei eine Erfolgsgeschichte gewesen, die es zu erneuern gelte.
Bei der Analyse der Geschichtspolitik des türkischen Regimes ist zwischen Innen- und Aussenpolitik zu unterscheiden. In beiden Fällen will die AKP ein äusserst positives Bild des Osmanischen Reiches vermitteln. Dies erfolgt in mehreren Ausprägungen: Das Osmanische Reich als glänzende Weltkultur. Das Osmanische Reich als islamisches Imperium. Das Osmanische Reich als furchterregende Militärmacht. Das Osmanische Reich als multikulturelles und im Vergleich zum Westen offenes und tolerantes Imperium.
Aus diesen Versatzstücken wählt die regierende türkische Elite je nach Adressat der Botschaft. Nach innen hin wird ein eindeutiges Bild vermittelt, eines starken islamischen Reiches türkischer Nation, einer eurasischen Macht und Zivilisation mit Zentrum in Istanbul. Entsprechend wird in Architektur, politischer Inszenierung und Erinnerungskultur osmanisiert. Der 29. Mai etwa ist mit aufwendigen Kundgebungen zur Eroberung ein Fixpunkt im politischen Kalender geworden. Der Staatspräsident umgibt sich auch gerne mit Soldaten in historischen Uniformen.
Nach aussen hin werden in die Nachfolgestaaten und den Westen unterschiedliche Botschaften ausgesandt: Die islamisch geprägten Länder des Balkans werden mit Hinweis auf ein grosses gemeinsames Erbe umworben, das offenkundig kontrastiert mit der bescheidenen Kleinstaaterei von heute. Islam und imperialer Glanz, aber auch gemeinsame militärische Erfolge, sind Elemente dieses Diskurses mit klar antiwestlicher Stossrichtung. In heute christlich geprägten Nachfolgestaaten wird mit Machtentfaltung und antiwestlichen Untertönen gearbeitet. Mit Blick auf den Westen wird anders argumentiert: Entworfen wird das Bild des toleranten, zivilisatorisch überlegenen, weltoffenen Reiches, dem ein konfessionell verengtes, Andersgläubige verfolgendes Abendland gegenübergestellt wird.
Postkoloniale westliche Befangenheit
In allen Fällen nützt die AKP geschickt die Revision negativer Stereotypen über die Osmanen. Diese aufgrund historischer Forschung zu korrigieren, ist seit Jahrzehnten ein Anliegen liberaler Historiker am Balkan, aber auch zahlreicher westlicher Forscher. Doch ist die AKP daran interessiert, das einseitig schwarze durch ein einseitig weisses Bild zu ersetzen. Postkoloniale und postmoderne Befangenheit im Westen erleichtern ihr diese Aufgabe. Denn es kann die Rehabilitierung einer zu Unrecht marginalisierten und subaltern behandelten islamischen Zivilisation behauptet werden.
Freilich hat die türkische Geschichtspolitik kaum etwas mit der historischen Wirklichkeit zu tun. Vor allem aber sieht sie die Gründe für Niedergang und Scheitern des Osmanenreiches hinweg. Kernelemente der Erdogan'schen Erinnerungspolitik sind: die Eroberungsphase (14. bis 16. Jahrhundert), islamischer Charakter und Toleranz sowie der Bezug auf Sultan Abdul Hamid II (1876–1909).
Die AKP ist daran interessiert, das einseitig schwarze durch ein einseitig weisses Geschichtsbild zu ersetzen.
Wer wie Davutoglu die osmanische Vergangenheit auf dem Balkan als «Erfolgsgeschichte» bezeichnet, blendet die enormen demografischen Folgen der sich über fast eineinhalb Jahrhunderte erstreckenden Eroberung aus, deren wirtschaftlicher Hauptmotor Menschenraub und Sklavenhandel waren. Die Etablierung osmanischer Herrschaft auf dem Balkan erfolgte zum Preis der weitgehenden Zerrüttung christlicher Gesellschaften und Kulturen. Während nach innen der islamische und militärische Charakter dieser Expansion propagandistisch im Sinne der islamistischen AKP-Ideologie offen eingesetzt wird, wecken derartige Diskurse auch bei Teilen der muslimischen Bevölkerung auf dem Balkan, gerade bei Albanern, gemischte Gefühle.
Die Vorstellung osmanischer Toleranz gegen Christen und Juden spielt in der AKP-Propaganda nach innen hin kaum eine Rolle. Sie richtet sich nach Westen und geht Hand in Hand mit Vorwürfen vermeintlicher Islamophobie in europäischen Gesellschaften. Gerne werden die europäischen Glaubenskriege und vermeintliche Glaubensharmonie im Osmanischen Reich gegenübergestellt. Dabei war das 17. Jahrhundert bei den osmanischen Muslimen eine Zeit radikaler religiöser Verhärtung, unter der Christen wie als heterodox angesehene Muslime verfolgt wurden. Die christliche Bevölkerung wurde auch in ruhigeren Zeiten systematisch zurückgesetzt und litt unter endemischer Rechtsunsicherheit. Bei einem genaueren Blick eignet sich die Religionspolitik der Osmanen kaum als Argument für zivilisatorische Überlegenheit.
Unfähig zur Reform
Auf Sultan Abdul Hamid II. bezieht sich der türkische Staatspräsident besonders gerne und häufig. Er war die «bête noire» der kemalistischen Türkei und wird nun von der AKP rehabilitiert: ein absolut herrschender Autokrat, der die Verfassung von 1876 ausser Kraft gesetzt hatte, sich ganz auf den Sicherheitsapparat stütze und den Islam als politische Ressource mobilisierte, indem er seinen Status als Kalif im Sinne eines Panislamismus zur Absicherung seiner Herrschaft gegen die aufkeimenden Nationalismen von Muslimen (Arabern, Albanern, Türken, Kurden) benützte. Unter ihm kam es 1894 bis 1896 zu den ersten grossen Massakern an der armenischen Bevölkerung mit Zehntausenden Toten. Erdogan sieht sich als neuen Abdul Hamid. Die Gegner des Sultans, so die Propaganda, seien auch heute die Feinde der Türkei: nach Westen blickende Reformer, aus denen sich die Kemalisten entwickelten, sowie die westlichen Mächte.
Die AKP blendet die Gründe und die Begleitumstände des spätosmanischen Scheiterns völlig aus.
Das Geschichtsbild der AKP blendet aber im Falle Abdul Hamid nicht nur Despotismus und Massenmord aus, sondern auch den offenkundigen Zerfall des Osmanischen Reiches, der 1908 einen Militärputsch der sogenannten Jungtürken und 1909 die Absetzung des Monarchen hervorrief. Das Imperium scheiterte gerade an jenem politischen Islamismus, den Erdogan heute feiert: technologisch und wirtschaftlich hinter den Westen zurückgefallen, wollte es sich im 19. Jahrhundert reformieren.
Die dafür notwendige Gleichberechtigung der in vielen Reichsteilen bedeutsamen, auf dem Balkan majoritären christlichen Bevölkerung wurde aber von den osmanischen Muslimen vehement bekämpft. Zu tief war ein jahrhundertealtes Überlegenheitsgefühl mental verankert. Die nationale Emanzipation der Christen förderte auch einen Nationalismus von muslimischen Türken und Albanern, die vom Panislamismus nicht mehr erreicht wurden. Die Integrationskraft des Reichs, äusserst gering bei Christen, versagte zunehmend auch bei den reichstragenden Muslimen.
Der türkische Nationalismus, der im kulturell gemischten Anatolien seine Heimstatt erblickte, war einer der Hauptfaktoren von Genozid und Vertreibung von Millionen Christen in Kleinasien. Das Osmanische Reich wurde im Ersten Weltkrieg von den Entente-Mächten besiegt. Aus seinen Trümmern entstand die kemalistische Türkei, die die AKP geschichtspolitisch bekämpft. Sie blendet dabei die Gründe und die Begleitumstände des spätosmanischen Scheiterns aus: den Despotismus eines Sultans-Kalifen, jahrzehntelange Reformverweigerung, weitgehende wirtschaftliche Abhängigkeit vom Ausland, die Niederlage im Weltkrieg und Völkermord.
Die Nachfolgestaaten des Osmanischen Reiches bilden heute einen Krisenbogen vom Balkan bis in den Nahen Osten. Säkularer Rechtsstaat, Verfassung, starke Institutionen, Parlamente, religiöse Gleichberechtigung, kohärente Infrastruktur- und Wirtschaftspolitik – nichts davon hinterliess das Imperium, und die Menschen in den betroffenen Ländern wissen dies. Politisch relevante Osmanen-Nostalgie gibt es ausserhalb türkisch finanzierter Zirkel kaum. Die Osmanische Kultur hat in der Frühen Neuzeit gewiss Grosses geleistet. Als ganzes dient sie dem Machthaber in Ankara auch gar nicht als Vorbild. Vielmehr wählt er Versatzstücke zur Legitimierung jenes Systems aus, das er anstrebt: ein autoritär islamistisches Regime unter einem sultansgleichen Herrscher.
Oliver Jens Schmitt ist Professor für Geschichte Südosteuropas an der Universität Wien.
Quelle: 'NZZ'