Seit gestern hat sich die parlamentarische Landschaft in Deutschland verändert.
Diejenigen, die bisher als Volksparteien galten, sind in zwei Bundesländern zu kümmerlichen Häuflein geschrumpft, während die Neuen von rechtsaußen auf Anhieb zweistellige Ergebnisse eingefahren haben. Koalieren und Regieren wird schwieriger.
Man mag das für ein Augenblicksgeschehen halten, als Protestwahl sehen gegen die Politik der Bundeskanzlerin, die man(n) nicht mehr als "Mutti" der Nation umschmeicheln mag.
Aber reicht das zur Analyse der gestrigen Wahlergebnisse? Ich meine, nein.
Das Brodeln der Unzufriedenheit wächst schon lange, wie auch die Zahl derer, die nicht mehr zum Kreuzchen machen bereit sind.
Hatte das die 'Etablierten' zum Handeln bewogen?
Haben sie mehr getan, als zur Kenntnis zu nehmen, dass gerade in ärmeren Stadtteilen und Landstrichen die Leute zu Hause blieben, statt ihr Wahlrecht wahrzunehmen?
Haben offene Besorgtheit und Fragen aus der Mitte der Gesellschaft eine spürbare Reaktion der bislang führenden Parteien zur Folge gehabt?
Hat "DIE" Politik Antworten geboten zur sich immer weiter öffnenden Schere zwischen Arm und Reich? Zu Bankenrettung, Steuer(un)gerechtigkeit, mangelndem Wohnraum für Geringverdienende, etc. etc. ?
Na gut, das sind rhetorische Fragen, aber im Zeitalter des "Man wird ja wohl noch .... dürfen!" wird man ja wohl auch mal fragen dürfen.
Wer die Erfolge der sich "Alternative" nennenden Rechtsaußenlastigen zuvorderst als Folge Merkelscher Flüchtlingspolitik interpretiert, aber die Unzufriedenheit und den allmählichen Abstieg breiter Teile der Gesellschaft -auch der Mittelschicht- übersieht, lässt wesentliche Fakten außer Acht.
Einer der ganz wenigen Leitartikler, die das gestrige Ergebnis in einen größeren Zusammenhang stellen, statt nur gebannt auf einzelne Personen zu blicken, ist Stephan Hebel von der Frankfurter Rundschau, dessen Artikel ich in Auszügen kopiert habe.
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Mindestens zwei Aspekte sollten nicht vergessen werden, wenn in den kommenden Wochen Koalitionsverhandlungen abgespult werden, als wäre nichts gewesen.
Erstens: In unserer Gesellschaft gibt es ein Potenzial an Unzufriedenheit und Wut, das sich zum einen in Fremdenhass verwandelt und zum anderen in resignierte Wahlenthaltung.
Und zweitens: Im bisherigen Parteiensystem hat offensichtlich niemand auf diese Abkehr vom System eine demokratische und freiheitliche Antwort gefunden. Die Politik, wie wir sie kennen, hat die Frustrierten der antidemokratischen „Alternative“ überlassen, weil sie selbst keine Alternativen zu bieten hatte.
Zum ersten Punkt, dem Potenzial an Unzufriedenheit und Wut: Wer glauben will, dass die bis zum Hass sich steigernde Verachtung für das politische System erst mit zunehmenden Flüchtlingszahlen entstanden sei, macht sich etwas vor. Das Gefühl vieler Menschen, „die da oben“ regierten an ihnen vorbei, ist älter als das Migrationsgeschehen der vergangenen Monate. Dass es sich so massenhaft in Stimmen für den Rassismus entlädt, mag mit den Flüchtlingszahlen zusammenhängen. Aber die Verunsicherung geht sicher weit über die Wählerschaft der AfD hinaus – siehe Wahlenthaltung – und ihre Ursachen liegen in viel längerfristigen Entwicklungen.
Gewinner und Verlierer - Der Wahlsonntag
Seit Jahren machen sich Wissenschaftler Gedanken darüber, dass in armen Wohngegenden oft nicht halb so viele Leute wählen gehen wie in gutbürgerlichen Vierteln – in der Politik hat diese Tatsache so gut wie keinen Widerhall gefunden. Seit Jahren auch wird überall (außer in der Politik) über Abstiegs- und andere Ängste bei großen Teilen der Mittelschicht diskutiert, die – Terrorbedrohung, Leistungszwang und langjähriger Lohnverzicht sind nur einige Stichworte – nicht zu Unrecht ein Grundgefühl der Unsicherheit verspüren. Und seit Jahren warnen kluge Leute davor, dass diese Verunsicherung sich zum Nährstoff für Kräfte entwickeln könnte, die die Verachtung gegen die etablierten Parteien zu einer Ideologie der einfachen Scheinlösungen und des Ressentiments geformt haben.
Und was haben die etablierten Parteien getan, um das zu verhindern? Sie – an der Spitze die Bundeskanzlerin – haben so getan, als herrsche landauf, landab das bräsige Wohlbefinden, das sie selbst verströmten. Sie (ausgenommen die allerdings chronisch zerstrittene Linkspartei) haben nichts getan, um den Abgehängten ein Zeichen praktischer Zuwendung zu geben: Unter dem Diktat der Schuldenbremse unterblieben dringend notwendige Investitionen in die soziale und materielle Infrastruktur für alle, ob Geflüchtete oder nicht. Und sie – nicht zuletzt Angela Merkel – haben jahrelang mit allen Mitteln die Flüchtlinge von unseren Grenzen ferngehalten.
Die Kanzlerin hat im vergangenen September eine humanitäre Geste gewagt, aus welchen Motiven auch immer. Aber ein halbes Jahr später geht es schon wieder nur darum, wie man sich die auf zwei Beinen einwandernden Folgen all der Krisen und Kriege vom Leib halten kann. Um den humanitären Imperativ des individuellen Rechts auf Asyl kämpft auch Angela Merkel nicht mehr. Und nun sind also viele zu der Partei gerannt, die die Politik und Rhetorik der Flüchtlingsabwehr bis zum offenen Rassismus radikalisiert. Furchtbar, aber nicht sehr überraschend.
Es gibt für niemanden, der diesen Rattenfängern hinterherläuft, eine Entschuldigung. Wenn aber die etablierten Parteien daran etwas ändern wollen, sollten sie ruhig bei sich selbst beginnen. Wenigstens nach diesem traurigen Wahltag.