Immer wieder geht es heute um Authentizität. Ganz „ich selbst“ sein... geht das?
Die Frage, wer und wie wir denn eigentlich sind, beschäftigt uns unterschiedlich häufig und intensiv und sicher auch oft ganz unbewusst. Endgültig können wir sie nie beantworten, da wir gestern nicht so waren, wie wir heute sind, morgen vielleicht schon anders als heute. Und heute?
Es gibt Menschen, die verhalten sich in verschiedenen Situationen so unterschiedlich, dass ich mich manchmal frage, was denn nun „echt“ ist. Beides? Keins von beiden?
Wenn wir unseren Tag betrachten, schlüpfen wir ständig in andere Rollen. Das geht gar nicht anders, es wird im Zusammenleben verlangt und meist gelingt der Wechsel mühelos: Wir sind Vater oder Mutter, Sohn oder Tochter, Nachbar, Kunde, Patient, Arbeitnehmer oder Chef, Freund oder Freundin .... Oft kann man Verhaltensweisen der einen Rolle in eine andere mitnehmen. Wer die Rollen nicht kennt, zur Anpassung nicht bereit oder fähig ist, eckt an, wird zurechtgewiesen.
Unser Leben nur Schauspielerei, die wir gar nicht als solche empfinden, wenn wir ständig in andere Rollen schlüpfen müssen und das meist auch tun?
Alle Rollen sind mehr oder weniger genau definiert, auch wenn sie häufig einem Wandel unterliegen. Zumindest besteht in der Regel eine gewisse Übereinkunft darüber, was als angemessen gilt, bzw. wann jemand aus der Rolle fällt. Rollenanspruch und Authentizität ... ein Widerspruch?
Solange man in eine neue Rolle hineinwächst, ihre Anforderungen und Möglichkeiten auslotet, wohl eher ja. Die Erwartungen der anderen, die Rückmeldungen darüber, was ich richtig oder falsch mache, lenken den Blick von mir weg. Mein Versuch, es „richtig“ zu machen, auch. Das mag aber noch stärker von der Lebensphase abhängen, in der wir uns mit neuen Rollen auseinandersetzen müssen. Je mehr eigene Erfahrungen wir gesammelt haben, je mehr wir zu einer Persönlichkeit geworden sind, die weiß, was sie will und was für sie gut ist, desto eher können wir die Rolle nach eigenen Vorstellungen ausfüllen und dabei „ich selbst“ bleiben.
Versucht man, die „perfekte“ Ehefrau, oder der „immer freundliche Nachbar“ zu sein, geht das nur auf kosten der Authentizität, muss man sich notwendig verbiegen. Die Fremdbestimmung überwiegt. Versucht man dagegen, sich von allen Konventionen zu befreien, alle Rollen zu sprengen -die Aufmerksamkeit, die man damit erregt, mag für den ein oder anderen die gesuchte Bestätigung sein- werden die sozialen Kontakte eingeschränkt. Wer sich nur selbst verwirklicht, fällt als „Partner“ weg, er ist „anstrengend“ oder „lästig“.
Es geht aber auch anders. Ein annäherndes Gleichgewicht zwischen Fremd- und Selbstbestimmung ergibt sich zwar nicht von selbst, lässt sich aber herstellen. Man kann eine Rolle ausfüllen, ohne sie nur zu „spielen“. Nicht von heute auf morgen, aber indem man beim Hineinwachsen die Vorgaben der Rolle nicht fraglos übernimmt, sondern auf ihre Notwendigkeit hin überprüft, ihre Effizienz, und sich darüber klar wird, was man selbst denn von dieser Rolle eigentlich erwartet; nicht nur in Bezug auf sich selbst, sondern auch auf die anderen.
Soweit das gelingt, sind wir auch in unserem Rollenverhalten authentisch. Dabei ist klar, dass uns im beruflichen Umfeld oft wenig Spielraum bleibt, das, was erwartet wird, durch das, was wir sind und wollen, zu beeinflussen. Manchmal bieten sich aber Möglichkeiten, mit denen wir zunächst gar nicht gerechnet haben.
Dann werden Sätze, wie „Den musst du mal privat erleben. Da ist der ganz anders!“, oder: „Nimm das nicht so ernst. So ist der nur als Arzt!“ vielleicht seltener zu hören sein. Wenn wir authentisch sind, müsste man uns ja in den verschiedensten Rollen immer wiedererkennen, auch wenn unterschiedliche Facetten deutlich werden.
Trotz aller Versuche, uns selbst zu verstehen und "ich selbst" zu bleiben, sollten wir die Fähigkeit der Selbsterkenntnis nicht überschätzen. Manchmal sieht man plötzlich, dass man ganz anders ist, als man gedacht hatte, was nicht notwendig Folge eines Selbstbetrugs sein muss. Da entdeckt man Schwächen, die man nicht im Blick hatte, neue Möglichkeiten, über die man selbst staunt. Meist steckt in uns viel mehr, als wir selbst glauben. Jede Definition, jedes „Selbstbild“, schränkt uns ein, fixiert uns. Das Lebendige in uns lässt sich nicht festlegen ... zum Glück. Das macht das Leben lebenswert und spannend. Seien wir darauf gefasst, das wir morgen schon ganz anders reagieren, als wir es je für möglich gehalten hätten. Sagen wir niemals nie...