Die schreckliche deutsche Sprache

  • ... heißt der Titel eines schmalen Bändchens, das seit längerem in meinem Bücheregal ein recht unbeachtetes Dasein fristete. Als ich es vor einigen Jahren geschenkt bekam, war ich in erster Linie erstaunt darüber, dass Mark Twain sich überhaupt mit der deutschen Sprache beschäftigt hatte. Erst jetzt habe ich es ganz gelesen ... und musste schmunzeln.


    Ein Blick auf InternetForen zeigt recht eindrucksvoll, wie schwer die deutsche Sprache selbst für diejenigen sein kann, die damit aufgewachsen sind. Mark Twain wirft einen Blick von außen auf unsere Sprache. Freundlich lächelnd oder ironisch-spottend stellt er die Grausamkeiten dar und macht zuletzt humorvolle Verbesserungsvorschläge.


    Wann genau Twain begonnen hat deutsch zu lernen, weiß ich nicht, aber 1891 ging er auf Europareise, um durch Vorträge seine Schulden abtragen zu können. Er lebte zunächst in Berlin, fast zwei Jahre in Wien und verbrachte vier Monate in Heidelberg, dem ersten US-TruppenStandort in Deutschland. Das Wohngebiet an diesem Truppenstandort heißt Mark Twain Village. Die Tatsache, dass Twain Berichte aus und über Heidelberg -das von amerikanischen Bomben fast völllig verschont blieb, welch Zufall-, in die Heimat schickte, könnte durchaus zum romantisierend Deutschlandbild vieler Amerikaner beigetragen haben, und den Umstand erklären, dass Heidelberg für sie bis heute der Anziehungspunkt in Deutschland geblieben ist. [2014 wird der Standort geschlossen. Die Stadt sucht Investoren für das Gelände.]


    Die schreckliche deutsche Sprache ist ein Auszug aus Ein Amerikaner in Heidelberg, 1878*


    Er beginnt mit den Worten:


    Ich ging oft ins Heidelberger Schloss, um mir das Raritätenkabinett anzusehen, und eines Tages überraschte ich den Leiter mit meinem Deutsch, und zwar redete ich ausschließlich in dieser Sprache. Er zeigte großes Interesse; und nachdem ich eine Weile geredet hatte, sagte er, mein Deutsch sei sehr selten, möglicherweise ein „Unikat“; er wolle es in sein Museum aufnehmen.


    Wenn er gewusst hätte, was es mich gekostet hat, meine Kunst zu erwerben, so hätte er auch gewusst, dass es jeden Sammler ruinieren würde, sie zu kaufen. Harris und ich arbeiteten zu dieser Zeit bereits seit mehreren Wochen hart an unserem Deutsch, und wir hatten zwar gute Fortschritte gemacht, aber doch nur unter großen Schwierigkeiten und allerhand Verdruss, denn drei unserer Lehrer waren in der Zwischenzeit gestorben. Wer nie Deutsch gelernt hat, macht sich keinen Begriff, wie verwirrend diese Sprache ist.


    Es gibt ganz gewiss keine andere Sprache, die so unordentlich und systemlos daherkommt und dermaßen jedem Zugriff entschlüpft. Aufs Hilfloseste wird man in ihr hin und her geschwemmt, und wenn man glaubt, man habe endlich eine Regel zu fassen bekommen, die im tosenden Aufruhr der zehn Wortarten festen Boden zum Verschnaufen verspricht, blättert man um und liest: „Der Lernende merke sich die folgenden Ausnahmen.“ Man überfliegt die Liste und stellt fest, dass es mehr Ausnahmen als Beispiele für diese Regel gibt. [...]


    Wird fortgesetzt, weil's so schön ist.


    * Die Angaben im Netz passen wieder hinten und vorne nicht zusammen. Ich verzichte aber auf eine weitere Recherche.

  • Jedes Mal, wenn ich glaube, ich hätte einen dieser vier verwirrenden Fälle endlich da, wo ich ihn beherrsche, schleicht sich, mit furchtbarer und unvermuteter Macht ausgestattet, eine scheinbar unbedeutende Präposition in meinen Satz und zieht mir den Boden unter den Füßen weg.


    Zum Beispiel fragt mein Buch nach einem gewissen Vogel (es fragt immerzu nach Dingen, die für niemanden irgendwelche Bedeutung haben): „Wo ist der Vogel?“ Die Antwort auf diese Frage lautet – gemäß dem Buch –, dass der Vogel in der Schmiede wartet, wegen des Regens. Natürlich würde kein Vogel so etwas tun, aber ich muss mich an das Buch halten. Schön und gut, ich mache mich also daran, das Deutsch für diese Antwort zusammenzuklauben. Ich fange am falschen Ende an, das muss so sein, denn das ist die deutsche Idee. Ich sage mir: „‚Regen‘ (rain) ist Maskulinum – oder vielleicht Femininum – oder auch Neutrum – es ist zu mühsam, das jetzt nachzuschlagen. Es heißt also entweder der (the) Regen oder die (the) Regen oder das (the) Regen – je nachdem, welches Geschlecht das Wort hat, wenn ich nachsehe.


    Im Interesse der Wissenschaft will ich einmal von der Hypothese ausgehen, es sei Maskulinum. Gut – der Regen ist der Regen, wenn er im Ruhezustand, ohne Ergänzung oder weitere Erörterung, lediglich erwähnt wird – Nominativ; aber falls der Regen herumliegt, etwa so ganz allgemein auf dem Boden, dann ist er örtlich fixiert, er tut etwas, nämlich er liegt (was nach den Vorstellungen der deutschen Grammatik eine Tätigkeit ist), und das wirft den Regen in den Dativ und macht aus ihm dem Regen. Dieser Regen jedoch liegt nicht, sondern er tut etwas Aktives – er fällt (wahrscheinlich um den Vogel zu ärgern), und das deutet auf Bewegung hin, die wiederum bewirkt, dass er in den Akkusativ rutscht und sich aus dem Regen in den Regen verwandelt.“


    Damit ist das grammatikalische Horoskop für diesen Fall abgeschlossen, und ich gebe zuversichtlich Antwort und erkläre auf Deutsch, dass der Vogel sich „wegen den Regen“ in der Schmiede aufhält. Sofort fällt mir der Lehrer sanft in den Rücken mit der Bemerkung, dass das Wort „wegen“, wenn es in einen Satz einbricht, den betroffenen Gegenstand immer und ohne Rücksicht auf die Folgen in den Genitiv befördere – und dass dieser Vogel daher „wegen des Regens“ in der Schmiede gewartet habe.

  • Besonderen Ärger rufen bei Mark Twain die zusammengesetzten Substantive hervor -denen er später noch einen eigenen Abschnitt widmet-, die sich im Deutschen zu wahren Wortungheuern verbinden lassen und Twain zu der Formulierung verleiten, deutsche Wörter seien so lang, dass man sie nur aus der Ferne richtig sehen könne. Gleichzeitig kritisiert er den Hang zur Paranthese, zu Schachtelsätzen. Beides ist im Englischen in dieser Form nicht möglich.


    Da er seine Kritik in genau der Form verfasst, die er kritisiert, wird diese in gleicher Weise sinnfällig wie ironisch.

    Es gibt zehn Wortarten, und alle zehn machen Ärger. Ein durchschnittlicher Satz in einer deutschen Zeitung ist eine erhabene, eindrucksvolle Kuriosität; er nimmt ein Viertel einer Spalte ein; er enthält sämtliche zehn Wortarten – nicht in ordentlicher Reihenfolge, sondern durcheinander; er besteht hauptsächlich aus zusammengesetzten Wörtern, die der Verfasser an Ort und Stelle gebildet hat, sodass sie in keinem Wörterbuch zu finden sind – sechs oder sieben Wörter zu einem zusammengepackt, und zwar ohne Gelenk und Naht, das heißt: ohne Bindestriche; er behandelt vierzehn oder fünfzehn verschiedene Themen, von denen jedes in seine eigene Parenthese eingeschlossen ist, und jeweils drei oder vier dieser Parenthesen werden hier und dort durch eine zusätzliche Parenthese abermals eingeschlossen, sodass Pferche innerhalb von Pferchen entstehen; schließlich werden alle diese Parenthesen und Überparenthesen in einer Hauptparenthese zusammengefasst, die in der ersten Zeile des majestätischen Satzes anfängt und in der Mitte seiner letzten Zeile aufhört – und danach kommt das Verb
    , und man erfährt zum ersten Mal, wovon die ganze Zeit die Rede war; und nach dem Verb hängt der Verfasser noch „haben sind gewesen gehabt haben geworden sein“ oder etwas dergleichen an – rein zur Verzierung, soweit ich das ergründen konnte –, und das Monument ist fertig. Ich nehme an, dieses abschließende Hurra ist so etwas wie der Schnörkel an einer Unterschrift – nicht notwendig, aber hübsch.

  • Doch selbst deutsche Bücher sind nicht völlig frei von Anfällen der Parenthesekrankheit, wenn sie hier auch gewöhnlich so milde verläuft, dass sie nur ein paar Zeilen in Mitleidenschaft zieht. Man kann daher dem Verb, wenn man es endlich erreicht, einige Bedeutung abgewinnen, erinnert man sich doch noch an ein gut Teil des Voraufgehenden. Nun, hier ist ein Satz aus einem beliebten, vortrefflichen deutschen Roman – mit einer kleinen Parenthese darin. [Ich werde eine absolut wörtliche Übersetzung anfertigen und zur Leseerleichterung Parentheseklammern und einige Bindestriche einstreuen – im Original gibt es weder Parentheseklammern noch Bindestriche,] und es bleibt dem Leser nichts anderes übrig, als sich zum weit entfernten Verb durchzuschlagen, so gut er kann:


    „Wenn er aber auf der Straße der in Samt und Seide gehüllten, jetzt sehr ungeniert nach der neuesten Mode gekleideten Regierungsrätin begegnete ...“


    Dieser Satz stammt aus dem „Geheimnis der alten Mamsell“ von Frau Marlitt und ist nach dem anerkanntesten deutschen Modell konstruiert. Man beachte, wie weit das Verb von der Ausgangsbasis des Lesers entfernt liegt; nun, in deutschen Zeitungen bringt man das Verb erst auf der nächsten Seite, und ich habe gehört, dass die Leute manchmal, nachdem sie sich ein, zwei Spalten lang in aufregenden Präliminarien und Parenthesen ergangen haben, in Eile geraten und schließlich drucken müssen, ohne überhaupt bis zum Verb vorgestoßen zu sein, was natürlich dazu führt, dass der Leser in einem Zustand größter Erschöpfung und Unkenntnis zurückgelassen wird.


    Auch in unserer Literatur gibt es die Parenthesekrankheit, und man kann tagtäglich in unseren Büchern und Zeitungen Fälle davon entdecken, aber bei uns verraten sie einen ungeübten Schreiber oder einen unklaren Geist, während sie bei den Deutschen zweifellos das Zeichen für eine geübte Feder und das Vorhandensein jenes lichten geistigen Nebels sind, der bei diesem Volk als Klarheit gilt. Denn es ist ganz gewiss keine Klarheit – es kann einfach nicht Klarheit sein. Selbst eine Jury von Geschworenen wäre scharfsinnig genug, um das zu erkennen. Die Gedanken eines Autors müssen schon mächtig verwirrt und in Unordnung sein, wenn er sich zu der Feststellung anschickt, dass ein Mann der Frau eines Regierungsrates auf der Straße begegnet, und dann inmitten dieses so schlichten Unterfangens die beiden näher kommenden Leute anhält und stillstehen lässt, bis er ein Verzeichnis von der Kleidung der Frau angefertigt hat.


    Das ist eindeutig absurd. Es erinnert einen an jene Zahnärzte, die sich unser augenblickliches und atemverschlagendes Interesse für einen Zahn sichern, indem sie ihn mit der Zange packen und dann dastehen und lang und breit einen lahmen Witz erzählen, bevor sie zu dem gefürchteten plötzlichen Ruck übergehen. In der Literatur und in der Zahnheilkunde sind Parenthesen schlechter Geschmack.

  • Die Deutschen kennen noch eine weitere Form der Parenthese, die sie herstellen, indem sie ein Verb spalten und die eine Hälfte an den Anfang eines spannenden Kapitels setzen und die andere Hälfte an den Schluss. Kann man sich etwas Verwirrenderes vorstellen? Diese Dinger heißen „trennbare Verben“. Die deutsche Grammatik ist geradezu übersät mit trennbaren Verben, und je weiter die beiden Teile auseinander gerissen werden, desto zufriedener ist der Urheber des Verbrechens mit seiner Leistung. Eines der beliebtesten Exemplare ist reiste ab – was „departed“ bedeutet. Hier ist ein Beispiel, das ich in einem Roman aufgelesen [und ins Englische übertragen habe]:


    Die Koffer waren gepackt, und er reiste, nachdem er seine Mutter und seine Schwestern geküsst und noch ein letztes Mal sein angebetetes Gretchen an sich gedrückt hatte, das, in schlichten weißen Musselin gekleidet und mit einer einzelnen Nachthyazinthe im üppigen braunen Haar, kraftlos die Treppe herabgetaumelt war, immer noch blass von dem Entsetzen und der Aufregung des vorangegangenen Abends, aber voller Sehnsucht, ihren armen schmerzenden Kopf noch einmal an die Brust des Mannes zu legen, den sie mehr als ihr eigenes Leben liebte, ab.“


    Es ist jedoch nicht ratsam, zu lange bei den trennbaren Verben zu verweilen. Man verliert bald unweigerlich die Beherrschung, und wenn man bei dem Thema bleibt und sich nicht warnen lässt, weicht schließlich das Gehirn davon auf oder versteinert.

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