Fortsetzung
Tausend Lieder
Ganz ungewöhnlich für einen zeitgenössischen, durchaus avancierten Komponisten, wurde Mikis Theodorakis jedoch immer schon von seinen Landsleuten geliebt und vor allem gehört. Das galt nicht zuletzt für seine über 1000 Lieder. Diese kurze, archaische Form erfand Theodorakis in all seinen Lebensphasen immer wieder neu, sie hat sich in die nationale DNS als Folklore frisch eingeschrieben. Die Liste ihrer schillernden Interpreten ist Legion und reicht vom bedeutenden Sänger Grigoris Bithikotsis und der von Theodorakis entdeckten erst sechzehnjährigen Maria Farantouri bis zu Dalida, Agnes Baltsa, Melina Mercouri und Nana Mouskouri, Georges Moustaki, Édith Piaf, Herman van Veen, Hannes Wader, Konstantin Wecker, zu Milva wie Vicky Leandros.
ZitatAlles anzeigenSo vielfältig wie ausufernd ist das von Zeitgenossentum wie griechischen Klangspezifika geprägte kompositorische Schaffen von Mikis Theodorakis. Anders als das seiner Landleute Nikos Skalkottas, Iannis Xenakis oder Georges Aperghis ist es bereit zum Kompromiss, zum Synkretismus. Es ist modern und volksverbunden, archaisch und avanciert, schmucklos und schmiegsam. Die Deutschen haben Theodorakis fast umgebracht, er aber liebte ihren Bach. Und später tanzten sie im Westen seinen Sirtaki und der Osten bejubelte den Revoluzzer.
Der aber schrieb so vieles, Trios, Quartette und Kammermusik jedweder Art, Instrumentalkonzerte, Sinfonien, Suiten, Bühnen- und Filmmusiken, Opern und Oratorien, bisweilen mit zeitgeschichtlichem, extrem politisierendem Inhalt, öfter aber, immer neu und komplex um die ewigen Themen der Antike und landeseigenen Dramatik kreisend. Eros und Thanatos, Antigone, Medea, Iphigenie, Elektra, Phaedra, Dionysos, schließlich Lysistrata, sie alle zogen ihn in ihren Klangbann. Aus der unmittelbar tönenden Reaktion auf eben Widerfahrenes riss es ihn immer wieder hin zur musikalisch-mythischen Ewigkeit.
Eine zeitgenössische Volksmusik
Denn schon 1961 kehrte Theodorakis, der umschwärmte Internationale mit den griechischen Wurzeln, zu seinem Ursprung zurück, ließ sich in Athen nieder und beteiligte sich am Kulturkampf um eine neue, zeitgenössische Volksmusik, der gleich auch ein politischer wurde.
Sein Liederzyklus „Epitaphios“ auf Gedichttexte von Giannis Ritsos versucht, die ländliche demotische Musik mit dem Rembetiko, dem städtischen „Tanz der Einsamkeit“ zu vereinen, den Manos Hadjidakis, der andere große, volkstümliche griechische Komponist des 20. Jahrhunderts, erst kürzlich offiziell gemacht hatte. Und wieder entbrannte der Streit zwischen Links und Rechts.
1963 gründete Theodorakis die Lambrakis-Jugend, die mit 50.000 Mitgliedern zur größten politischen Organisation Griechenlands avancierte. 1964 wurde er als Abgeordneter der EDA-Partei ins Parlament gewählt. Gleichzeitig begann er mit der Entwicklung einer metasymphonischen Musik, die das westliche Sinfonieorchester mit griechischen Volksinstrumenten verbindet und darüber hinaus den Geist der Klassik mit der hellenischen Musiktradition. Bei ihm erhielt vor allem die Bouzouki als traditionelles Instrument der unteren Bevölkerungsschichten zum ersten Mal eine zentrale Rolle im kunstmusikalischen Umfeld.
Im Exil
Während der Zeit der Militärdiktatur ging Theodorakis in den Untergrund. Seine Musik wurde verboten, ebenso der Besitz seiner Platten. Sogar auf das Singen und Hören seiner Lieder stand Gefängnisstrafe. Er wurde neuerlich verhaftet und gefoltert, verbannt und eingekerkert. Eine internationale Solidaritätsbewegung, angeführt von Schostakowitsch, Leonard Bernstein, Arthur Miller, Yves Montand, Laurence Olivier und Harry Belafonte, setzte sich für seine 1970 erfolgte Freilassung ein. Theodorakis ging wieder nach Frankreich – diesmal ins Exil. In dieser Zeit entstand seine zweite berühmte Filmmusik für Constantin Costa-Gavras: „Z – Anatomie eines politischen Mordes“. Ähnlich populär wurde später nur noch „Serpico” (1973) für Sidney Lumet.
In Paris gründete Mikis Theodorakis den Nationalen Widerstandsrat und begann seine Welttourneen als Klangkampf bis zum Sturz der Diktatoren im Juli 1974. Schon 1972 war er aus der Kommunistischen Partei Griechenlands ausgetreten und ließ sich später nie wieder parteipolitisch vereinnahmen, obwohl er weltweit von linken Spitzenpolitikern empfangen wurde und für die Massen das Symbol des ungebrochenen Widerstands gegen die Militärjunta blieb.
Vom neuen Griechenland als Held gefeiert, wurde er bald des intriganten Parlamentsalltags müde, engagierte sich nur noch selten, ließ seine Musik sprechen, wie im „Canto General“, dem kraftvoll swingenden Oratorium mit den Versen Pablo Nerudas. Seit 1980 nahm er – nach so viel politischer, meist kleinteiliger Musik mit Worten – sein sinfonisches Schaffen wieder auf. Es entstand zudem Kirchenmusik in griechisch-orthodoxer Tradition.
„Erimia“
Zwischen 1990 und 1992 amtierte Mikis Theodorakis – später nannte er es einen Irrtum – noch einmal als unabhängiger linker Staatsminister ohne Geschäftsbereich und engagierte sich für eine Reform des Erziehungswesens und der Kulturpolitik, gegen Drogenkonsum und Terrorismus sowie für eine Aussöhnung zwischen Griechen und Türken. Seine Weinfässer hießen schon längst nicht mehr Lenin und Marx, sondern Butterfly und Norma. 1993/94 war er Generalmusikdirektor des Sinfonieorchesters und Chores des Griechischen Rundfunks; danach zog er sich ganz aus dem öffentlichen Leben zurück, protestierte, komponierte und dirigierte. Als letzte Liederzyklen entstanden 2005 „Erimia“ (Einsamkeit) und 2006 „Odysseia“.
Seine letzten Jahre waren von Krankheit überschattet. In seinem schmalen Haus, wenige Schritte vom Götterhügel der Akropolis entfernt, wo man vom obersten Stock aus auf den Parthenon blickt. Mikis Theodorakis wurde zum entrückten Mythos. So hat er durch sein Werk wie sein Sosein das geschafft, was Ludwig van Beethoven immer sein wollte, und kein bedeutender Komponist vor ihm erreichte: ein vom ganzen Land geliebten, bisweilen auch gehasster Künstler, Politiker, Freiheitskämpfer zu sein, eine Stimme des Humanen, eine Weltikone.
Er selbst sah das viel einfacher: „Schon als sehr kleiner Junge habe ich die menschliche Rasse gefürchtet. Irgendwann folterten sie mich. Es war für mich ein Akt der Niederwerfung. Von da an lebte ich im Wesentlichen in mich zurückgezogen, mit der Musik als Zuflucht. Ein Widerspruch? Glücklicherweise haben wir zwei Leben: das äußere und das innere. Letzteres ist das wahre.“
„Europa hatte keinen Che Guevara, es hatte Mikis Theodorakis“, hat Roger Willemsen gesagt. Jetzt ist dieser Mann in Athen gestorben. Er wurde biblische 96 Jahre alt. Griechenland aber wird weiter seine Lieder singen. Und dem Globus bleibt Sorbas’ Sirtaki. Badam, badam, badabadadam. Den könnte Mikis Theodorakis nun wieder mit Anthony Quinn und Alan Bates tanzen. Im Rhythmus der Freiheit.
(Welt)