Das Kreuz bleibt hängen
Ein langer Streit über Kruzifixe im Klassenzimmer ist beendet. Die
Kirchen freuen sich, doch das Urteil steht zum deutschen Recht in einer
gewissen Spannung.
Europa bleibt eine große
religionspolitische Auseinandersetzung erspart. Der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg entschied in letzter
Instanz, dass Kruzifixe in italienischen Schulen hängen dürfen und nicht
aus Rücksicht auf nicht-christliche Schüler oder deren Eltern entfernt
werden müssen.
Damit revidierte
die Große Kammer des Gerichtshofs ein Urteil der Kleinen Kammer von
2009, die genau entgegengesetzt geurteilt hatte, dass Kreuze in
Klassenzimmern gegen die Religionsfreiheit der Schüler und das
Erziehungsrecht der Eltern verstießen.
Indem diese
Entscheidung nun rückgängig gemacht und das Auf- oder Abhängen der
Kreuze dem Ermessen der jeweiligen Mitgliedsstaaten des Europarates
überlassen wird, besänftigt das Gericht zum einen all jene, die mit dem
christlichen Symbol in staatlichen Schulen die religiöse Prägung unserer
Kultur veranschaulichen wollen und das Kreuz als Zeichen für die
biblische Versöhnungsbotschaft auch bei nicht-christlichen Schülern für
wichtig erachten.
Zum andern
vermeidet die Große Kammer einen Streit, ob Europäisches Recht in
kulturelle und religiöse Gepflogenheiten einzelner Staaten eingreifen
darf.
Erstes Urteil löste in Italien Empörung aus
Den Anlass zum Urteil gab
eine aus Finnland stammende Italienerin, die sich an den Kruzifixen in
den Klassenzimmern ihrer beiden Söhne in Italien gestört hatte. Mit
ihren Klagen auf Abhängung der Kreuze scheiterte sie in allen
italienischen Instanzen. Doch 2009 gab ihr die Kleine Kammer des
Europäischen Menschengerichtshofes Recht: Die Kreuze müssten
verschwinden.
Dieses Urteil
löste in Italien, aber auch in vielen anderen europäischen Ländern und
zumal bei der katholischen Kirche Empörung aus. Die Klägerin wurde von
einzelnen Fanatikern sogar persönlich bedroht.
Italien legte
dann Beschwerde gegen das Urteil bei der Großen Kammer ein. Dem
schlossen sich als Drittparteien zehn weitere Länder des Europarates
sowie 33 EU-Abgeordnete und Organisationen wie das Zentralkomitee der
deutschen Katholiken an.
Sie alle
erhalten jetzt Recht. Denn die mit 17 Richtern besetzte Große Kammer
befand, dass beim Kruzifix in Klassen keine Verletzung der Europäischen
Menschenrechtskonvention vorliege und "sich nicht beweisen lässt, ob ein
Kruzifix einen Einfluss auf die Schüler hat, auch wenn es in erster
Linie als religiöses Symbol zu betrachten ist". Zudem habe der
Gerichtshof bei diesem Thema die Entscheidungen der Staaten zu
respektieren, – "sofern diese Entscheidungen zu keiner Form der
Indoktrinierung führen". Eine solche Indoktrinierung aber sehen die
Richter beim Kruzifix nicht.
Unterschied zur deutschen Rechtslage
Zur deutschen
Rechtslage steht diese Urteil zumindest grundsätzlich in einer gewissen
Spannung. Denn 1995 hatte das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass
Kruzifixe in Klassenzimmern nicht hängen dürfen, weil sie der
Religionsfreiheit im Sinne des Grundgesetzes widersprechen.
Nach einer
Beschwerde anthroposophischer Eltern aus Bayern befanden damals die
Verfassungsrichter, dass die Anbringung eines Kreuzes in den Räumen
einer staatlichen Pflichtschule gegen das Verfassungsprinzip verstößt,
wonach es den Bürgern zu überlassen sei, welche religiösen Symbole sie
anerkennen und welche nicht. Wenn Kinder in einer Pflichtschule, die
keine Bekenntnisschule ist, tagein tagaus unter einem Kruzifix sitzen
müssen, werde die Religionsfreiheit verletzt, entschieden damals die
deutschen Verfassungsrichter.
Diese
Entscheidung allerdings hatte so gut wie keine praktischen Konsequenzen.
Denn die Bundesländer, zumal Bayern, fanden verfassungsrechtlich
gangbare Wege, um die Kreuze in den Klassen hängenzulassen. Als Bayern
nach dem Karlsruher Urteil sein Unterrichts- und Erziehungsgesetz ändern
musste, ging der Freistaat so vor, dass die Verletzung der
Religionsfreiheit durchs Klassenkreuz jeweils eigens geltend gemacht
werden muss. "Angesichts der geschichtlichen und kulturellen Prägung
Bayerns wird in jedem Klassenraum ein Kreuz angebracht", heißt es im
geänderten bayerischen Gesetz.
Erst wenn "der
Anbringung des Kreuzes aus ernsthaften und einsehbaren Gründen des
Glaubens oder der Weltanschauung durch die Erziehungsberechtigten
widersprochen" würde, müsse sich die Schulleitung um eine "gütliche
Einigung" bemühen. Und wenn die nicht möglich sei, müsse man "zu einem
gerechten Ausgleich" kommen, wobei "auch der Wille der Mehrheit, soweit
möglich, zu berücksichtigen" sei. Seitdem mussten erst in einem Fall
eines Lehrers 2002 die Kreuze aus jenen Klassenzimmern abgehängt werden,
in denen er jeweils unterrichtete.
Kirchen begrüßen das Urteil
Weil somit
faktisch das Kruzifix in deutschen Schulen unangefochten bleibt,
unternahmen Kirchen und konservative Politiker am Freitag in ersten
Reaktionen auf das Straßburger Urteil auch keinen Versuch, die deutsche
Rechtslage infrage zu stellen. Vielmehr wurde das Urteil um seiner
selbst willen begrüßt. Der Vorsitzende der katholischen Deutschen
Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, sagte in Bonn, das
Gericht trage "dem überwiegenden Anteil der italienischen Bevölkerung
Rechnung". Mit dem Anbringen von Kreuzen, so Zollitsch, gebe der Staat
seinen Werten und seiner Identität einen "unaufdringlichen Ausdruck" des
Staates.
Der
evangelische Staatskirchenrechtler Hans Michael Heinig, Leiter des
Kirchenrechtlichen Instituts der EKD, lobte das Straßburger Urteil als
"kluge Entscheidung", die einem Kulturkampf in Europa vorbeuge und die
Verfassungsautonomie der Staaten achte. Die unterschiedlichen
staatskirchenrechtlichen Modelle in Europa hätten alle ihre
Berechtigung.
Erleichtert
zeigten sich auch bayerische Poltiker. Die Justizministerin des
Freistaats, Beate Merk (CSU) sah darin ein Signal gegen "eine Laisierung
der Schule" und zeigte sich in ihre Meinung bestärkt, dass "auch von
Minderheiten Toleranz eingefordert werden" dürfe. CSU-Generalsekretär
Alexander Dobrindt sprach von einer sehr guten Entscheidung für die
"christlichen Wurzeln" Europas.
http://www.welt.de/politik/aus…ber-es-haengt-schief.html