The Kenny Gallery
Gertrude Degenhardt wird 80
Vermutlich werdet ihr Degenhardts Bilder kennen. Manche besitzen vielleicht sogar welche?
Schon in meiner Schüler- und Studentenzeit habe ich sie genossen. Später bin ich so oft ich konnte zu den Vernissagen gereist. Immer war es beeindruckend.
All diese skurrilen, oft boshaften Karikaturen gleichenden Figuren. Sinnenfroh, trunken, musizierend, feiernd, tanzend , manche verschlagen und gemein, wieder andere erschöpft und Todesnah.
Viele davon haben ihre Vorbilder in Gertrudes Umfeld in Irland und Deutschland oder stammen aus Geschichte und Literatur, einige aus ihrer Familie.
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Heute wird Gertrude Degenhardt 80 Jahre alt.
Herzliche Glückwünsche, stabile Gesundheit und noch viele gute, kreative Jahre!
ZitatAlles anzeigenAns Meer, Menschenskind!
Mit virtuosem Strich: Der Malerin und Grafikerin Gertrude Degenhardt zum 80.
Von Peter Arlt
Gertrude Degenhardt
»Freunde aus verschiedenen Zeiten«: Aus dem Buch »Kommt an den Tisch unter Pflaumenbäumen. Alle Lieder von Franz Josef Degenhardt«
Die Bilder der in Mainz lebenden Gertrude Degenhardt, besonders die im Liederbuch ihres Schwagers Franz Josef Degenhardt, rufen Erinnerungen an jugendliche Hoffnung wach. Friedlich und solidarisch ging es damals für uns in Köln oder Dublin hin zu einer neuen Menschengeselligkeit. Auf dem UZ-Pressefest oder dem Festival des politischen Liedes in Berlin, Hauptstadt der DDR, wurde der Sieg der Güte über die Gewalt besungen von Franz Josef Degenhardt, Dieter Süverkrüp, Dietrich Kittner oder Gruppen wie Chalk Circle (Kreidekreis). Zu dieser Gegenöffentlichkeit gehörten selbstverständlich Poster mit Motiven von Gertrude Degenhardt. Sie hingen in jeder westdeutschen WG-Küche, die etwas auf gesellschaftlichen Fortschritt hielt.
Geboren am 1. Oktober 1940 in New York, wuchs Gertrude Degenhardt in Westberlin auf. Seit 1966 ist sie freischaffende Malerin und Grafikerin, wechselweise in Rheinhessen und an der irischen Westküste, wo sie jetzt nicht mehr hinkommt. Sie ist eine parteiliche, dabei phantasievolle Zeichnerin mit virtuosem Strich, achtet auf stimmige Genauigkeit und vergisst nie die sinnliche Lebensart. Sie hatte Einzel- und Themenausstellungen auf der ganzen Welt (viele in der Galerie Wolfgang Böhler). Für Zyklen und Einzelblätter erhielt sie 1968 in Krakow/Polen und 1976 in Fredrikstad/Norwegen Graphik-Biennale-Preise.
Besonders ans Herz gehen ihre liebenswerten, skurrilen Gestalten von der irischen oder schottischen Küste, die mir 1987 erstmals begegneten auf dem Cover einer Amiga-Platte des Folksängers Dick Gaughan, »A Different Kind Of Love Song«. Eine Farbzeichnung. An einer Meeresbucht lagern auf herbstgefärbtem Wiesenhang kameradschaftlich jungenhafte Männer und eine Frau, ganz still, der Musik und in ihr Leben lauschend. Einfache Leute, die der Dichter Wulf Kirsten »Menschen ohne Resonanznamen« nannte. Verwandt sind Degenhardts Radierungen zu Erzählungen des Iren Liam O’Flaherty – handfeste Trinker und Spieler, Frauen voller Angst um ihre Söhne auf See. Gestalten, die sich im Zweifel am Ende doch aufrappeln, statt bei den Wracks und Wackelgreisen zu verkommen, die lostippeln: ans Meer, Menschenskind! Ganz anders verfährt die Künstlerin mit Goldmonstranzen und krummgelogenen Oberhirten, mit NATO-Offizieren, Geheimdienstlern, rechten Richtern, die heuchlerisch Freiheit fordern, gegen die sie alles tun, oder Ordinarien, die die Wissenschaft frei von Marx halten wollen. All denen zeigt sie karikierend die Faust.
In den von ihr illustrierten Büchern stehen kleine, in den Text eingerückte Radierungen im zauberhaften Wechselspiel mit farbigen Bildern. Die haben oft mehrere Ebenen. Was auf den ersten Blick nur ein Naturstück mit Bäumen ist, offenbart auf den zweiten im Boden, wo die Wurzeln sind, Frauenfiguren und -gesichter, eine sich ständig wandelnde, lebendige Struktur. Ihre Phantasie kommt auch von Bosch, Goya und Dürer her: Rumpelstilzchen spielt auf der Nasenflöte, sein aufragender Penis treibt Blätter. Mit Weinlaub bekränzt Bacchus Kopf und Genital. Jungen mit trolligen Kopfbedeckungen und Mädchen mit Haarkranz aus Kresse und mit bebänderten Kleidern tanzen Ringelreihen.
In besagtem Liederbuch sitzen beim Fest unter Pflaumenbäumen Freunde aus verschiedenen Zeiten eng beieinander und werden vom weinumkränzten Bacchus bewirtet. Minnesänger Oswald von Wolkenstein lässt sich mit leerem Glas aus der Flasche vollaufen. Lächelnd macht der französische Komödiant Aristide Bruant Platz, mit rotem Schal und schwarzem Mantel wie einem Plakat von Toulouse-Lautrec entsprungen, gegenüber François Villon. In der Bildmitte stecken zwei Brüder die bärtigen Köpfe zusammen, Franz Josef und Martin Degenhardt (Verleger, Ehemann von Gertrude), so eng wie ihre Gitarren am Boden. Sie lachen wohl, wer von den Schuften und Schweinen die Hand an welchem Loch hat.
In einer Partitur am oberen Bildrand »hockt ein schwarzer Vogel im Baumgespinst«, die Angst vor dem Tod. Und jetzt? Völlig klar: Kumpanen und Sangesbrüder werden hereingerufen, zusammen den violetten Wein zu trinken, der »sich mischt mit unserem Blut« (Hans-Eckardt Wenzel). Politisches Temperament und die Kraft der Musik. So lebt Vergangenes in der Zukunft fort, erzeugt der Schnee von gestern Enthusiasmus.
Aus "Junge Welt": Ausgabe vom 01.10.2020, Seite 10 / Feuilleton
Bildende Kunst