Blöd, wenn man trübsinnig auf ein Ticket schauen muss, das man so grade noch ergattert hatte und das einem feinsten Musikgenuss zu sichern schien.
Aber in Zeiten der Coronakrise sind die Musiktempel geschlossen.
Also durchforstet man seine häuslichen Bestände an Scheiben - die uralten schwarzen, ebenso wie die kleinen silbrigen. Nur, das gebuchte Konzert können sie nicht bieten.
Umso dankbarer sind wir für Angebote, die uns kostenlos mitnehmen in berühmte Konzerthallen, wo großartige Künstler Musikgenuss vom Feinsten bieten.
ZitatAlles anzeigenWie wir Klassik sehen, ohne ins Konzert zu gehen
Stand: 17.03.2020 | Lesedauer: 6 Minuten
Von Manuel Brug Feuilletonmitarbeiter
Igor Levit tut es, Joyce DiDonato tut es: Immer mehr Klassikstars geben über soziale Medien Konzerte für alle. Wie kann man sie streamen? Ein Überblick.
Opernaufführungen und Orchesterprogramme als Live-Darbietungen per Internet und Geisterkonzert im leeren Saal, die voranschreitenden Corona-Einschränkungen lassen keine Ansammlungen mehr zu, die Theater mussten alle sogar ihren Probenbetrieb einstellen. Jetzt schlägt die Stunde des Konserven-Streamings. Und der Minigruppen-Initiative, sprich: der Kammermusik. Neben einer Unzahl von Künstlern, die auf Twitter oder Facebook für Spontandarbietungen online gehen, haben viele Klassik-Institutionen gegenwärtig ihre Archive und Streamsammlungen kostenfrei geöffnet. Manche senden täglich, andere ausgewählt.
Hier eine erste Übersicht lohnender Gratis-Portale, weitere Häuser, etwa die Deutsche Oper und das eben erst geschlossene Royal Opera House Covent Garden werden folgen, sobald Rechte abgeklärt sind. Strammer Streamer, wie etwa die Hamburger Elbphilharmonie oder Londons Kammermusikmekka Wigmore Hall, haben freilich gegenwärtig zu wenig Content, frischer wird auch nicht hinzukommen. Andere haben eben nur sich selbst, wie etwa das Gotenborg oder das Detroit Symphony Orchestra, da ist manches interessant, anderes nicht. Und noch ein Extra-Tipp für den 20. März: Da gibt es um 19 Uhr im ORF und auf Mezzo.tv (kostenpflichtig) einen Probenzusammenschnitt der ausgefallenen „Fidelio“-Premiere von Christoph Waltz und Manfred Honeck.
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Arte Concert
Die universellste Plattform, Beat oder Beethoven, Oper oder Olala, alles ist da, für jede Geschmack, immer und gleichzeitig. Da werden Avantgarde-Freaks Futter finden, aber auch konservative Stargenießer (http://arte.tv/de/arte-concert). Es gibt aktuelle Konzerte und alte Aufzeichnungen. Gerade ganz besonders viel zum 250. Geburtstag von Ludwig van. Beethoven, der natürlich auch hier als audiovisueller Höhepunkt gefeiert werden sollte. Endlich einmal kann man hier in die Untiefen des Archivs hinabsteigen und sein schlechtes Gewissen beschwichtigen, weil man früher nie Zeit dafür hatte. Und es lassen sich sicherlich erstaunliche Entdeckungen machen – dank unserer Rundfunkgebühren.
Wiener Staatsoper
In Wien wäre am 18. März Wagners „Walküre“ auf dem Spielplan gestanden. Die gibt es auch tatsächlich, ab 17 Uhr auf dem Computer. Denn die Wiener Staatsoper (http://staatsoperlive.com) ist zwar geschlossen, spielt aber täglich online kostenlos und meist sogar dass, was regulär angesetzt gewesen wäre, in diversen Besetzungen. Denn seit einer Dekade ist auch diese altmodische Institution ein Streaming-Vorreiter mit Opern- und Ballettaufzeichnungen. Bei den Konserven sind faule Eier dabei und grandiose Vokalsträuße, so wie im echten Opernleben. Der Spielplan steht bereits bis zum 2. April. Sendestart stets um halb acht (Wagner um fünf). Einfache Anmeldung, Untertitel in acht Sprachen. Für 24 Stunden verfügbar. Aktueller Tipp: heute „Tri Sestri“ von Péter Eötvös.
Digital Concert Hall
Auch die Berliner Philharmoniker haben ihre Hausaufgaben gemacht und inzwischen in über zehn Jahren ein Archiv aus 600 Konzerten angesammelt (http://digitalconcerthall.com). Da gibt es die kompletten letzten Spielzeiten in HD und 4K, professionell gefilmt und ausgesteuert. Dazu ältere Dokumente und aufgekaufter Inhalt, Stunden von Interviews und einige Dokumentationen. Da kann der Thielemann-Tiger und der Petrenko-Panter, die Rattle-Rennmaus, die Abbado-Gottesanbeterin, die Karajan-Königskobra und der Haiting-Haflinger satt werden. Früher kostenpflichtig, ist hier zunächst für einen knappen Monat alles frei – wenn man sich bis zum 31. März anmeldet.
Simon Rattle dirigiert Bach
Metropolitan Opera
Das größte Theater Amerikas hat ebenfalls sein Archiv aus TV-Aufzeichnungen und Kinoübertragungen weit aufgemacht und sendet – wie bei den Oscars – jede Nacht ab halb zwei Uhr mitteleuropäischer Zeit für lau eine Musiktheaterpreziose (http://metopera.org). Manche kitschig, andere atemraubend, mit allen Big Names des Business. Man kann freilich auch beruhigt ausschlafen, alles steht 20 Stunden zur Verfügung. Warum also nicht am 20. zum Brunch die neue „La Traviata“ in „Beauty & the Beast“-Schnörkeloptik, aber mit Diana Damrau, dem Alfredo-Debüt von Juan Diego Flórez und Yannick Nézet-Séguin am Pult?
Staatsoper Unter den Linden
Corona-TV Unter den Linden Berlins. Nachdem man, wie eigentlich geplant, die aktuellen Premieren im leeren Saal nicht mehr streamen darf, hat die Staatsoper in ihrem, natürlich um Daniel Barenboim zentrierten Opern- und Konzertarchiv gekramt. Man versucht – mit Wiederholungen – seit 16. März den Spielplan abzubilden, hat aber nicht soviel Content wie in Wien. Jeweils um 12 Uhr mittags wechselt das 24 Stunden zugängliche Stück – Oper Sinfoniekonzert, Ballett. Unter den Streams befinden sich der eben erst aufgezeichnete „Der Rosenkavalier“ von André Heller und Zubin Mehta, aber auch Hardcore-Avantgarde wie Beat Furrers „Violetter Schnee“. Oder der Brahms-Zyklus der Staatskapelle aus Buenos Aires.
Opéra de Paris
Die Pariser Oper fängt am 17. März um 19.30 Uhr unter dem Hashtag #LOPERACHEZTOI mit dem Streaming an. Man startet mit der der Aufzeichnung, der eigentlich für die an diesem Tag vorgesehenen brandneuen Massenet-„Manon“ mit Pretty Yende und Benjamin Bernheim. Die wird sieben Tage zugänglich sein, dann folgt die nächste Oper, vermutlich der relativ frische „Don Giovanni“. Bis Mai sind zudem die Aufzeichnungen der absolut sehenswerten Rameau-Oper „Les Indes galantes“, des Balletts „Gisèlle“ sowie ein Tschaikowsky-Zyklus des Orchesters unter Philippe Jordan ständig zugänglich. Und es gibt weiterhin die Videoplattform 3e Scène mit schrägen und experimentellen, eigenproduzierten Videoclips um Oper und Tanz.
Bayerische Staatsoper
In München wollte man mutig livestreamen und wurde von den verschärften Maßnahmen überrollt. Die Jahrespressekonferenz und ein geschrumpftes Akademiekonzert gingen noch vor leerem Haus über die Bühne, jetzt musste man auf ein sehr überschaubares, aber qualitätsvolles, je zwei Wochen abrufbares Angebot aus alten Livestreams reduzieren: Dabei sind die vorletzte Premiere mit dem Bartók-Doppelabend, „Der Troubadour“ mit Jonas Kaufmann und Anja Harteros sowie das Balanchine-Ballett „Jewels“. Vielleicht wird ja noch nachgelegt? Inhalte gäbe es genug…
"Judith" in der Bayerischen Staatsoper
Budapest Festival Orchestra
Hat man sich durch einen traurig stimmenden Clip des als Chef des Budapest Festival Orchester zur melancholischen Untätigkeit verdammten Gründers Iván Fischer gearbeitet, dann offeriert der ungarische Eliteklangkörper jeden Abend um19:45 Uhr live gestreamte Kammerkonzerte unter dem Titel „Quarantine soirées“. Denn: „Wir brauchen Musik jetzt mehr als jemals.“
Opera Vision
Auf der von der EU geförderten Videoplattform sind 29 Partnerhäuser und -Festivals aus 17 Ländern vereint. Und die bieten – mit dreisprachigen Untertiteln – gegenwärtig 21 Opern an. Da findet der Gourmet seine Spezereien und auch der Raritätenschnüffler Trüffel wie Moniuszkos polnische Nationaloper „Halka“ aus Warschau, Erich Wolfgang Korngolds rarer Venedig-Einakter „Violanta“ aus Turin, eine grandiose Dvorak-„Rusalka“ aus Antwerpen oder die Barry-Kosky-Inszenierungen von Henzes „Bassariden“ und Weinbergs „Frühlingsstürme“ aus der Komischen Oper Berlin. Und sogar absolut Schräges wie Ivan Zajcs patriotische Kroatenoper „Nikola Šubić Zrinjski’“ aus Zagreb wird offeriert. Mehr Content, heißt es jetzt, folgt sogar noch.
Für fortgeschrittene Opernfreaks
Wer immer mal seine Bildungslücken schließen wollte und jetzt viel Zeit hat: Anlässlich des Jubiläums der 100. Händelfestspiele, die ab Mitte Mai in Göttingen steigen sollten, aber jetzt abgesagt wurden, bietet NDR Kultur bis zum 30. September zehn unbekannte Opern aus den Jahren 2009 bis 2019 als Stream an. Etwa „Lotario“, „Imeneo“, „Faramondo“ – mal zeitgenössisch, mal historistisch. Zusammen mit der Unitel zeigt das Rossini Opera Festival Pesaro gegenwärtig für jeweils 24 Stunden unter dem Logo „Soirées musicales“ Rossini-Rarissimia: am 18. März „Zelmira“, am 21. „Sigismondo“, am 24 „Adelaide di Borgogna“ usw. Wer immer noch nicht genug hat: Das Teatro Regio Torino bietet unter dem Hashtag #operaonthesofa jeden Tag einen mit einer einzigen Kamera in der Totalen abgefilmten Generalprobenakt, der dann auch weiterhin zu sehen ist – wie Verdis kompletter „Nabucco“ und Cimarosas „Die heimliche Ehe“.
(Welt)