Fortsetzung
ZitatAlles anzeigen
Nicht genügend Tests
Das muss nun anders werden. Wenn Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ankündigt, dass vollständig Geimpfte von Tests und Quarantäneregelungen ausgenommen werden sollen, und sich darüber in den nächsten Wochen mit den Ländern ins Benehmen setzen will, ist es zu spät. Jeder Tag des Lockdowns muss genutzt werden, sichere Öffnungsstrategien zu erarbeiten. Das gilt auch für Schulen und Kitas.
Seit Weihnachten ist vom Testen die Rede, bis zu den Osterferien hat es nur in Ausnahmefällen geklappt. Bundeseinheitlich sollte gelten, dass nur derjenige Bildungseinrichtungen betreten darf, der einen negativen Test vorweisen kann.
Sich auf das Impfen allein zu verlassen ist zu unsicher. Sich rasch entwickelnde Mutanten wie die gerade in Indien aufgetretene, die Eigenschaften des britischen und des südafrikanischen Virus in sich vereint, gefährden eine einseitige Fokussierung auf das Impfen. Für viel wahrscheinlicher halten Medizinethiker, dass die älteren Menschen im Herbst abermals mit einem veränderten Vakzin geimpft werden müssen, um auf Mutanten zu reagieren. Hinzu kommt, dass das Impfen angesichts der Knappheit der Impfstoffe zu langsam vorangeht und gerade Bevölkerungsgruppen mit der höchsten beruflich oder familiär bedingten Mobilität noch nicht geimpft sind. Genauso falsch wäre es, sich allein auf das Testen zu verlassen.
Der Bund hat für dieses Jahr nach eigenen Angaben 800 Millionen Antigen-Schnelltests gesichert. Das reicht angesichts einer Bevölkerung von über 80 Millionen Menschen nur für wenige Wochen. Das tatsächliche Angebot werde dieses Kontingent bei weitem übertreffen, heißt es zwar in Berlin, wo beruhigend hinzugefügt wird, der Bund habe sich 200 Millionen Selbsttests gesichert.
Aber was nutzen Selbsttests etwa in Kitas und Schulen, wenn es keine Teststrategie gibt, um die sich Länder und Einrichtungen selbst kümmern müssen? Die Vorteile des epidemiologischen Testens sind von verantwortlichen Politikern lange nicht gesehen worden. Stattdessen wurde auf die Unzuverlässigkeit der Schnelltests verwiesen und den negativ Getesteten unterstellt, sie könnten das Testergebnis als Freibrief betrachten, über die Stränge zu schlagen und sich über alle Hygieneregeln hinwegzusetzen. Um so wichtiger wäre es, Öffnungsstrategien und Modellversuche wissenschaftlich auszuwerten.
Umfassende Schutzkonzepte gefordert
Die Vorsitzende des Europäischen Ethikrats, die Kölner Medizinethikerin Christiane Woopen, verweist auf das Papier des nordrhein-westfälischen Expertenrats, in dem sie selbst mitarbeitet, der Öffnungsschritte nicht an zeitliche Vorgaben oder Branchen bindet, sondern an umfassende Schutzkonzepte, Teststrategien und Infektionskettennachverfolgung. Die von Spahn gerühmte Anonymität der Corona Warn-App führt nicht zum Ziel. Die Luca-App, bei der sich Nutzer mit Name, Adresse und Telefonnummer registrieren, erweist sich als weitaus praktikabler.
Die Nutzer bekommen jede Minute einen neuen QR-Code auf das Handy gespielt, mit dem sie sich anmelden können, wenn sie in ein Geschäft, ein Restaurant oder Konzert gehen oder in den Bus einsteigen. Ihr Handy speichert Ort und Zeit in einer verschlüsselten Historie. Der Datenschutz muss gewährleistet sein, aber das wäre durch Datentreuhänder wie die Bundesdruckerei durchaus möglich, sagt Woopen. Bei der Einführung der Warn-App waren es die Datenschützer, die darauf beharrten, dass es beim Aufspüren der Infektionen auf das „wer“, nicht auf das „wo“ ankommt. Inzwischen wissen wir auch das besser.
Entscheidend für alle digitalen Tools ist die direkte Verbindung zu den Gesundheitsämtern. 60 Gesundheitsämter haben nach Auskunft der Firma Nexenio, die Luca entwickelt hat, das System kostenlos beantragt. Mecklenburg-Vorpommern hat für seine acht Gesundheitsämter etwa 440.000 Euro investiert. Wenn auf dem digitalen Tool nicht nur Impfstatus, sondern auch Tests und Infektionsfälle tagesaktuell gemeldet würden, könnten sie Infektionscluster viel rascher identifizieren und Infektionsketten unterbrechen. Wer kein Handy hat, könnte ein Tag als Armband tragen, das eine Nachverfolgung von Infektionsketten erleichtern könnte.
Testen muss selbstverständlich werden
Woopen erinnert daran, dass es schon im Februar vergangenen Jahres die Forderung nach einer Task Force gab, die allerdings kaum aus zwei Bundesministern bestehen sollte. Logistiker, Unternehmen, Juristen, Vertreter aus den Ministerien müssten eine umfassende Strategie mit klaren Empfehlungen erarbeiten und für die Umsetzung sorgen. „Ich glaube nicht, dass man im Augenblick noch irgendetwas neu erfinden müsste, man muss vorhandene Strategien umsetzen“, sagt sie.
Der morgendliche Selbsttest könnte dann schon bald zum Tagesablauf gehören wie das Zähneputzen. Wer positiv ist, geht zum PCR-Test. Ein koordiniertes, klares Vorgehen, bei dem die Bürger mitmachen könnten, hält Woopen für dringend erforderlich. In ihren Augen muss es auch eine Plattform geben, auf der die unterschiedlichen Corona-Regeln in Ländern und Stadtstaaten jeweils auf dem aktuellsten Stand abrufbar sind. Wer heute in eine bestimmte Stadt fahren muss, sucht oft genug lang, bis er die landesspezifischen Eigenheiten irgendwo im Internet findet.
Am besten wäre es, wenn „die Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidenten mit einer Stimme spricht und sehr klare Ansagen macht, dass nur da geöffnet wird, wo die zusätzliche Schutzstrategie da ist“. In spätestens zwei Wochen müsste die flächendeckende Anbindung einer Plattform zur digitalen Infektionskettennachverfolgung da sein, und jeder könnte sich mit QR-Codes in Geschäften, öffentlichen Verkehrsmitteln, Theatern und Kinos einchecken. Dringend wäre, dass „rund um die Uhr geimpft wird, dass man die Priorisierung um Pragmatismus ergänzt und dass massenweise Tests produziert werden“, meint Woopen.
In Schulen und Kitas müssten drei Tests pro Woche verpflichtend sein, fordert die Medizinethikerin. Auch für alle anderen hält sie das möglichst häufige Testen für unumgänglich. Sobald jeder Einzelne ein gewisses Maß an Mitverantwortung für seine Freiheiten trägt, wären möglicherweise auch Gesundheitsschutz und soziale Folgen besser in Einklang zu bringen.