Claudie Gallay, Die Brandungswelle

  • ... ein Buch für eine Nacht.


    Ich habe das Buch gelesen, obwohl es ein Bestseller ist und obwohl die Westermann es empfohlen hat.
    Gelockt hat mich das Intro des Verlages: La Hague im Nordwesten der Normandie. Nur wenige Menschen wohnen hier, am Ende der Welt, am Meer, dort, wo die Menschen ebenso schroff sind wie die Natur und das Leben vom Wind, vom Wetter und den Gezeiten bestimmt wird - bis eines Tages Lambert auftaucht.

    Lambert kommt zurück in das Ferienhaus seiner Kindheit, an den Ort, an dem er vor vierzig Jahren seine Eltern und seinen kleinen Bruder bei einem Bootsunglück verloren hat. Da war er siebzehn.
    Zwischenzeitlich hat er als "Bulle" gearbeitet, aber die alte Geschichte treibt ihn um und zurück zum Meer. Jetzt geht er ruhig, leise, aber gezielt und stur auf Spurensuche. Und auf die Suche nach seiner Erinnerung.


    Unterstützt wird er von einer namenlosen Ich-Erzählerin. Die Vogelkundlerin hat sich nach dem Tod ihres Mannes in La Hague verkrochen. Sie zählt Vögel, Nester, Eier und Küken, protokolliert die Länge der Tauchvorgänge der Kormorane und zeichnet die Vögel, die sie beobachtet, in eine Kladde.

    Die Handlung des Romans bleibt minimal, die Gespräche der wenigen wetter-gegerbten Einwohner lebt vom Schweigen. Und doch entsteht eine Geschichte voller Geschichten, voller Empathie und mit viel Spannung.

    An die simple Grammatik der Sprache musste ich mich erst gewöhnen. Wie drückt man Schweigen aus, das Verstehen durch einen kurzen Blick in die Augen? Gallay gelingt das.
    Die Figuren sind so gezeichnet, dass man eine genaue Vorstellung von ihnen bekommt. Und zumindest ich bin deshalb dran geblieben an der Geschichte - auch wenn es mehr wurde als eine Nacht.


    Wir liefen weiter. Der Wind war kalt, feucht von der Gischt. Max kam dicht an uns vorbei. Er trug ein langes Brett mit sich. Lambert blickte ihm lange nach, dann schaute er wieder zum Ufer, dorthin, wo Nan stand. Das Schwarz ihres Kleides verschmolz mit dem Schwarz des Meeres. Von weitem sah man nur ihr dichtes, langes weißes Haar.
    "Warum hat sie mich Michel genannt?"
    "Sie hat Sie verwechselt. Ein Onkel, ein Bruder, wer weiß."
    Er nickte, blieb stehen und zog eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche.
    "Kommen Sie von hier?"
    "Nein, aber diese Geschichte hört man schnell, man muss sich nur eine Weile hier aufhalten."
    Er riss ein Streichholz zwischen den Fingern an und entzündete seine Zigarette.
    "Die weißen Haare, das kommt vom Melanin", sagte er und atmete den ersten Zug aus. "Wenn man Angst hat, verschwindet mit dem Melanin die Farbe."
    Ich nickte.
    Seine Haare wurden an den Schläfen grau, ich fragte mich, ob er Angst gehabt hatte. *



    Claude Gallay, Die Brandungswelle
    btb Verlag, München, 5. Auflage 2011


    * S. 28f


  • In der Berliner Literaturkritik vom 3.9.2010 heißt es:


    Die Sprache Gallays bezaubert. Es ist faszinierend, wie sie langsam und subtil atemberaubende Spannung aufbaut - und dabei ganz ohne Leichen und hochdramatische Szenen auskommt. Wenn sie vom Meer schreibt, möchte man sofort hinfahren. Und wenn sie ganz undramatisch vom lieblosen Aufwachsen eines Kindes im Ort erzählt, ist man den Tränen nah. „Die Brandungsmauer“ ist still, poetisch und schön; das Buch berührt und geht unter die Haut.


    Am besten lest ihr selbst.

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