Gesetz ... oder Recht des Stärkeren?

  • Gespräch mit einem Vogel, der kein Philosoph ist, sondern nur seinen normalen Vogelverstand benutzt.



    Als ich diesmal beim Vogel eintraf, schien der schon auf mich gewartet zu haben. Er überfiel mich geradezu.


    "Sagen Sie mal, junge Frau, was war das denn neulich? Zuerst hielt ein Mann einen anderen am Arm fest und schrie laut. Dann kamen zwei Männer, die mich ein wenig an die Wächter hier im Zoo erinnerten, und nahmen den einen Mann mit. Das hab ich ja noch nie erlebt!"


    "Ach, das waren bestimmt Polizisten ... die sorgen für Ordnung. Der Mann, den sie mitgenommen haben, war sicher ein Verbrecher. Möglicherweise wollte er dem anderen seinen Geldbeutel stehlen."


    "Verbrecher? Was ist das denn?"


    "Ein Mensch, der gegen die Gesetze unserer Gesellschaft verstößt. Diebe, die anderen etwas wegnehmen, oder ... "


    "Nicht so schnell", unterbrach mich der Vogel. "Wenn einer von euch einem anderen etwas von seiner Beute wegnimmt, handelt er gegen eure Herdenregeln?"


    "Selbstverständlich. Die Regeln ... die Gesetze ... sind ja dazu da, jeden einzelnen von uns zu schützen!"


    "Ich dachte, es sei bei euch die höchste Regel, sich so viel wie möglich von der Beute der anderen anzueignen. Ihr teilt doch alles nach Rang und jeder will zu denen gehören, die mehr bekommen ... oder?"


    "Nun, wir werden unterschiedlich belohnt ... je nachdem, wie wichtig unsere Arbeit für die Allgemeinheit ist."


    Unwillkürlich zögerte ich einen Moment: "Im Prinzip jedenfalls ... real nicht immer. Aber das ist zu kompliziert, um es zu erklären. Um ehrlich zu sein, ich blicke selbst nicht ganz durch. Kurz gesagt: Die Gesellschaft regelt und überwacht die Verteilung. Keiner lässt sich von einem anderen mit List oder Gewalt wegnehmen, was ihm laut Gesetz zusteht."


    "Das versteh ich nicht. Wenn ein Menschentier listiger und stärker ist als andere, muss es doch nach Herdenregeln höher im Rang stehen. Entweder darf es dann auch über die fremde Beute verfügen, oder es bekommt im Voraus einen größeren Anteil an der Gesamtbeute und braucht sie nicht."


    "Diebe und Räuber stehen doch bei uns nicht hoch im Rang", sagte ich empört, " ... sie stehen außerhalb der Rangordnung, wie Sie es nennen. Wenn sie erwischt werden, werden sie bestraft."


    "Und wenn sie nicht erwischt werden?"

    Ich zögerte einen Moment. "Die meisten werden erwischt. Raub und Diebstahl lohnen sich nicht." Meine Stimme klang so, als müsste ich mich selbst überzeugen.


    "Wissen Sie, junge Frau, was Sie von den Verbrechern erzählen, habe ich bei anderen Raubtierrudeln nie gesehen. Da wagt es kein rangniedrigeres Männchen oder Weibchen einem ranghöheren etwas wegzunehmen. Sie warten geduldig darauf, was für sie übrig bleibt, auch wenn sie sehr hungrig sind.
    Tun Ihre Artgenossen das auch aus Hunger?"


    "Manchmal ....", gab ich widerwillig zu.


    "Dann stimmt eure Herdenordnung nicht. Ihr habt ja genug Fraß, mehr als ihr brauchen könnt. Dann müsste aber ... egal, wie die Verteilung geregelt ist ... auch etwas für die Rangniedrigsten bleiben. Auch wenn sie selbst keine Beute machen."


    "Natürlich versorgen wir auch die Armen und diejenigen, die nicht arbeiten können", entgegngete ich bestimmt. "Menschen werden heute in der Regel nicht aus Hunger zu Dieben und Räubern..."


    "Schon klar: Es sind Tiere, die mit ihrer niedrigen Einstufung nicht einverstanden sind und die versuchen, sich zu nehmen, was ihnen nach ihrer Meinung zusteht. Und sie glauben, dass sie klüger und geschickter sind als ihre Artgenossen.


    Noch etwas: Bei euch steigen Menschen im Rang, je nachdem, wieviele Güter sie angehäuft haben. Es kann also passieren, dass ein Dieb oder Räuber, der nicht erwischt wird und viel Vermögen angesammelt hat, zu einem hohen Tier wird, dem ihr alle Respekt bezeugen müsst?"


    "Das kann allerdings passieren", erwiderte ich leicht resigniert, " ... obwohl es natürlich nicht richtig ist."


    "Wieso nicht richtig?", wunderte sich der Vogel. "So einer hat doch bewiesen, dass er mehr schafft ... allein gegen die ganze Herde ... als die meisten von euch mit der Unterstützung der Herde! Wenn ich irgendetwas von euren Gesetzen verstanden habe, müsst ihr ihn zu eurem Anführer wählen."


    Der Vogel schwieg eine Weile. Dann fuhr er fort: "Sie sprachen von Gesetzen ... und davon, dass man sie brechen kann. Ich dachte, ein Gesetz gilt immer, z. B. dass man fressen muss, um zu leben, dass jedes Lebewesen sterben muss, dass ich fliegen kann und Sie nicht."


    "Das sind Naturgesetze. Ich meine aber Gesetze, die sich die Menschen selbst geben, um ihr Zusammenleben zu regeln. Sie müssen dann aufpassen, dass sie eingehalten werden und sie notfalls erzwingen."


    "Nur die Stärkeren können etwas erzwingen", kam prompt die Antwort des Vogels. "Die Stärkeren achten also auf die Einhaltung der Gesetze? Halten sie sich auch selber daran?"


    "Die Gemeinschaft ist ja stärker als der einzelne."


    "Nach meiner Erfahrung ist das kein Naturgesetz", sagte der Vogel trocken. "Ich verstehe aber, dass ihr euch auf den Schutz eurer Herde verlassen müsst, sonst seid ihr geliefert. Dann sind es wohl auch die Stärksten, die die Gesetze bestimmen."


    "Wie gesagt, die Gemeinschaft ist immer die Stärkste und sie entscheidet."


    "Wollen Sie damit sagen, dass sich die Spatzen, weil sie viele sind, per Gesetz genauso große Anteile an der Beute sichern können wie große Greifvögel? Das wäre komisch und ich glaube es Ihnen nicht."


    "Es gibt bei uns verschiedene Gesellschaften, auch solche, in denen die Großen den Kleinen fast alles wegnehmen und regieren, wie sie wollen."


    "Ihr seid wirklich widernatürliche Tiere. Soll das heißen, dass nicht alle Menschenherden nach denselben Gesetzen leben?"


    "Nein. Es gibt verschiedene ..."


    Eine stärkere Herde kann also einer schwächeren ihre Gesetze aufzwingen?"


    "Ja ...", gab ich leise zu. "Das passiert ..."


    "Wenn ich richtig verstehe", sagte der Vogel langsam, "ist es so: Die Starken ... ob die wenigen Großen, oder die vielen Kleinen, wenn sie sich zusammentun ... machen Gesetze, mit denen sie sich einen besseren Anteil an der gemeinsamen Beute sichern. Und sie verbieten per Gesetz, dass jemand ihren Anteil antastet. Dies jedoch nur solange, bis jemand, der stärker ist, ein großes Tier oder eine größere Herde ... die Gesetze umdreht, wie es ihnen passt.


    Wir Vögel machen es auch so, der Stärkere nimmt sich, was er will ... nur nennen wir es nicht Gesetz."



    Der Text basiert auf einer Idee des Satirikers Gabriel Laub.


    Das erste Gespräch mit dem Vogel, hier mit Kommentaren ... oder auch hier Endlich "frei" ... ?






    Erstveröffentlichung 15. 9. 2009