Natürlich kann man die gestrige Aktion des Magazins 'Stern' für einen Werbegag halten, und damit für blanke Heuchelei.
Andererseits bietet das eintägige redaktionelle Schweigen dem Betrachter die Chance innezuhalten, nachzudenken, zu verarbeiten: Neben der Menge bereits erhaltener Informationen auch die Frage was es mit einem ganzen Berufsstand macht, wenn wir Konsumenten immer schneller mit den neuesten und möglichst sensationellen Berichten und Bilddokumenten beliefert sein wollen.
Gerät nicht der Aspekt der sorgfältigen Recherche, die naturgemäß einiges an Zeit beansprucht, oder auch die Problematik der physischen wie psychischen Belastbarkeit des Berichterstatters zusehends ins Hintertreffen? Und bleiben nicht Fairness und Verständnis gegenüber Menschen, die traumatische Situationen erleben während sie ihrem Beruf nachgehen, allzu oft auf der Strecke?
Fordernde Anspruchshaltung, Schuldzuweisung und pauschale Beschimpfung -"Lügenpresse!"- funktionieren hingegen ungehemmt.
Das sollte uns nachdenklich stimmen.
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Wir schweigen heute
Wir Journalisten dürfen nicht sprachlos sein.
Wir sollen beschreiben. Berichten. Analysieren. Doch je mehr wir unsere Pflicht ernst nehmen, umso mehr macht uns das Leid der Menschen in Aleppo und ganz Syrien sprachlos.
Statt Antworten haben wir immer mehr Fragen.
Wie können wir über das alltägliche Leid berichten?
Was bewirkt unsere Berichterstattung?
Haben wir ausreichend über das Thema berichtet?
Auf die letzte Frage müssen wir ehrlich mit Nein antworten. Nein, wir haben nicht genug berichtet.
Diese Antwort führt zu der nächsten, einer der wichtigsten Fragen: Warum?
Weil uns die Bilder und Nachrichten von noch mehr Toten nicht mehr aufrütteln?
Weil das alles so weit weg ist – zumindest gefühlt?
Weil wir durch die Masse von schrecklichen Bildern und Nachrichten abgestumpft sind? Wir diese Bilder nicht mehr an uns heranlassen, um uns vielleicht – bewusst oder unbewusst – selbst zu schützen?
Weil uns die Zeit fehlt, uns angemessen mit dem Thema auseinanderzusetzen?
Weil schon die nächste News, der nächste Aufreger, der nächste Shitstorm heranrollt?
Oder weil Syrien einfach nur nicht gut genug klickt?
Es ist wohl ein wenig von allem.
Wir scheitern täglich daran, das Leid zu fassen, das in Syrien jeden Tag passiert. Weil es buchstäblich unfassbar ist.
Dennoch versuchen wir es. Jeden Tag wieder. Das ist unser Job.
Doch heute wollen wir das einmal ganz anders machen. Uns von den normalen journalistischen Reflexen lossagen. Nicht lauter, schneller und mehr berichten. Sondern schweigen.
stern.de wird heute den ganzen Tag still sein. Keine Nachrichten, keine Werbung, keine Breaking News. Nur Bilder. Aus Aleppo und Syrien. Keine Schockfotos. Keine blutverschmierten Kinder. Sondern der traurige Alltag.
Heute geht es nicht um Reichweite, Klicks und effiziente Vermarktung.
Heute geht es uns darum, ein Zeichen zu setzen. Stumm. Und so der unerträglichen Sprachlosigkeit entgegenzubrüllen – indem wir sie einfach einmal zulassen.
Die Redaktion von stern.de
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