Erdoğan goes Erdowahn

Ergänzung zu Heinz' Beiträgen #24 und #29

Zitat

Das türkische Parlament hebt die Immunität von mehr als einem Viertel seiner Abgeordneten auf.
Wie das Parlamentsfernsehen berichtet, kam die für die Verfassungsänderung notwendige Zweidrittelmehrheit zusammen: 373 der 550 Parlamentarier stimmten für den Vorstoß der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP. Betroffen sind vor allem Abgeordnete der prokurdischen HDP.
Erdoğans islamisch-konservative AKP-Partei stellt im Parlament die Mehrheit. Zwischen Kurden und Regierungstruppen hat es in den vergangenen Monaten immer wieder gewalttätige Zusammenstöße gegeben. Kurdische Extremisten werden für zahlreiche Anschläge in der Türkei verantwortlich gemacht.

Um den Schutz vor Strafverfolgung aufzuheben, wird nun die Verfassung geändert. Demnach wird – vorübergehend, wie es heißt ­– ein Satz aus Artikel 83 für jene 138 Mitglieder der Nationalversammlung gestrichen, denen Straftaten vorgeworfen werden: "Ein Abgeordneter, der vor oder nach der Wahl eine Straftat begangen haben soll, darf nicht festgenommen, verhört, verhaftet oder vor Gericht gestellt werden, wenn die Versammlung nicht anderweitig entscheidet." 138 Abgeordnete stimmten gegen den Vorschlag.
Mit der Annahme der Verfassungsänderung ist der Weg für Strafverfolgung frei.
Die HDP befürchtet, dass Abgeordnete ihrer Fraktion festgenommen werden, gegen die Terrorvorwürfe erhoben werden. Parlamentarier anderer Parteien sehen sich Anschuldigungen wie zum Beispiel Amtsmissbrauch ausgesetzt.

Die 138 Abgeordneten, denen die Immunität entzogen wird, verteilen sich auf alle vier Parteien im Parlament: Nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu gehören 27 zur islamisch-konservativen AKP (317 Sitze), 51 zur Mitte-Links-Partei CHP (133 Sitze), 50 zur prokurdischen HDP (59 Sitze) und neun zur ultrarechten MHP (40 Sitze). Außerdem soll der einzigen parteilosen Abgeordneten die Immunität entzogen werden.
Bereits bei der ersten Abstimmungsrunde am Dienstag hatte eine breite Mehrheit der Abgeordneten für den Vorschlag der AKP gestimmt, die Zweidrittelmehrheit wurde aber verfehlt.

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('Zeit')

Zitat

Aktuelle Legislaturperiode
Letzte Wahl: 1. November 2015
Vorsitz: Parlamentspräsident İsmail Kahraman (AKP)

Sitzverteilung:

• AKP 317
• CHP 133
• HDP 59
• MHP 39
• Unabhängige 2

Wikipedia

Eigentlich könnte man ja fragen "Was geht uns das an?", wenn die Türkei sich mehr und mehr von Demokratie, Laizismus und westlichen Einflüssen entfernt. Schließlich hat sich Europa nicht gerade in Willkommensgesängen geübt, seit die Türkei im Jahr 1959 ihren Aufnahmeantrag zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft stellte.
Außerdem hat das Land den Putschversuch vom letzten Jahr mit vielen Toten noch nicht verkraftet. Und nicht zuletzt ist die Verfassung eines jeden Landes eine innerstaatliche Angelegenheit.

Dennoch:
Spätestens seit türkische Politiker aufbrechen um in Westeuropa die Werbetrommel zu rühren fürs angestrebte Präsidialsystem, ist es vorbei mit dem europäischen 'Warten-wir's-ab'. Statt dessen gilt es Stellung zu beziehen ob, und falls ja, in welcher Form dieser Wahlkampf geduldet werden kann/sollte. Vermeintliches Unbeteiligtsein geht gar nicht mehr.
Oder vielleicht doch?
Wenn man verfolgt hat, wie innerhalb weniger Stunden der Konflikt zwischen den Niederlanden und der Türkei eskalierte, frage ich mich, ob Deutschland nicht gut daran tut, so vergleichsweise 'gelassen' zu bleiben wie bisher.
Zig-Tausende Erdoğan-aufgepeitschte, in ihrer "Ehre" gekränkte Türken auf den Straßen? Och nö.
Dann -für den Notfall- doch lieber 'Brandschutz' ... und was die Klaviatur der Hinderungsgründe sonst noch hergibt.

Zitat von Heinz K

Hinterher muss es ja doch psssiert sein, sonst säßem die Parlamentarier jetzt nicht im Knast. Ob unter denen eigentlich auch AKP Mitglieder sind? Gülen-Anhänger?

Klar, es passierte nur wenige Tage nach der ersten Abstimmung.
Ob die AKP-Mitglieder derzeit im Knast sitzen, weiß ich nicht. Zumindest wurde 27 von ihnen die Immunität entzogen.
Siehe Infokasten im Beitrag #47.

Zitat von Mindfreak

Er hat euch in der Hand, weil ihr von ihm abhaengig seid !

Das ist deutlich zu kurz gehöppt.
Die Türkei befindet sich derzeit im wirtschaftlichen Sinkflug. Touristen bleiben weg, westliche Investoren stornieren Aufträge, die EU friert die finanzielle Hilfe ein, die türkische Währung wackelt.
Und gerade WEIL das so ist, sehen viele Türken ihren Präsidenten nicht mehr uneingeschränkt als den Initiator einer prosperierenden türkischen Wirtschaft sondern zunehmend skeptisch als Jemanden, der Gefahr läuft zu zerstören, was zuvor erfolgreich aufgebaut wurde.
Insofern braucht Erdoğan -und mit ihm der konservative Flügel- einen äußeren Feind, den es gemeinsam zu bekämpfen gilt, und der das Wahlvolk nach innen einigt.

Empörte westliche "Wie-du-mir-so-ich-dir" Politstrategen sind daher ganz in Erdoğans Interesse. Ihnen verdankt er unter Umständen die entscheidenden Prozentpunkte für seine präsidiale Allmacht.
Merke: Nicht immer gehört ein grober Keil auf einen groben Klotz.