Seit Jahrzehnten gewinnen die Nichtwähler jede Wahl.
Wieso also zeigen sich die Kommentatoren Deutschlandweit so schockiert angesichts der Tatsache, dass die Wahlbeteiligung in Bremen/Bremerhafen zuletzt bei nur ca. 50% lag? Wundert es jemanden, dass die Lust am Wählen vor allem bei denjenigen schwindet, die ohnehin am Rand leben?
Und wen, bitteschön, kümmert's wirklich?
Letzes Jahr erklärte der 'Cicero' zunächst das Nichtwählen zum Grundrecht, um kurz darauf anklagend zu titeln "Nichtwähler gefährden die Demokratie".
Dabei hat man das Augenmerk allzu lange auf das Lager der sich intellektuell trotzig gebenden, bürgerlichen Mitte gerichtet, bei der es plötzlich als chic galt sich dem Wählen zu entziehen, um so "die Politik" abzustrafen. Dass so etwas nach hinten losgeht und "die Politik" dadurch nicht flexibler, sondern allenfalls maulig konservativer wird, scheint man allmählich zu begreifen.
Blöd nur, dass diejenigen, die Zuwendung aller Art -d.h. finanzielle wie ideelle Unterstützung- bitter nötig haben, ebenso inaktiv sind und den Wahlen fernbleiben, weil sie sich keine Veränderungen, soll heißen: Verbesserungen, davon versprechen.
Ein böser Zirkel - denn dort, wo der Abgeordnete keine Stimmen erhält, d.h. keine Klientel hat, lässt er sich auch nicht blicken und bekommt von den Missständen wenig bis gar nichts mit. Jedenfalls nicht durch eigene Anschauung. Folglich bleibt auch sein persönlich motivierter Einsatz aus.
Und so fließen Geld und Unterstützung stetig, wie gehabt, in die falsche Richtung.
Zitat
- Niedrige Wahlbeteiligung in Bremen – Arm wählt nicht
- Wer die Grafiken zur Wählerwanderung studiert, stellt fest: Die Gruppe der Nichtwähler hat am Wochenende in Bremen mehr Stimmen dazugewonnen als jede Partei.
- Besonders in ärmeren Stadtvierteln gehen die Menschen nicht mehr an die Urnen.
- Diese Entwicklung sollte vor allem bei der SPD zu einem Umdenken führen.
- Der eigentliche Wahlsieger in Bremen ist der Nichtwähler. So könnte man das Ergebnis der Bürgerschaftswahl zynisch kommentieren. Gerade einmal die Hälfte aller Wahlberechtigten gab gestern ihre Stimme ab, weswegen die Nichtwähler mit Abstand das größte Lager bildeten. Sieger sind sie aber nicht, im Gegenteil. Vielmehr ist ihre Enthaltsamkeit eines von vielen sichtbaren Zeichen der sozialen Spaltung, unter der Bremen leidet.
Denn der Anteil von Nichtwählern ist in denjenigen Stadtteilen groß, die auch sonst als abgehängt gelten. Arbeitslose und Menschen mit wenig Bildung gehen besonders selten zur Wahl – eine Entwicklung, die sich nicht nur in Bremen, sondern in ganz Deutschland abzeichnet. Der Bremer Landeswahlleiter Jürgen Wayand warnte bereits vor der Wahl im Weser Kurier: “Das Parlament verliert irgendwann seine Legitimation, wenn sich die Hälfte aller Wahlberechtigten nicht mehr dafür interessiert.” Dieser Punkt ist jetzt erreicht. […]
Gerade die SPD hat in den vergangenen Jahren das Vertrauen der unteren Gesellschaftsschichten eingebüßt. Galt sie vor allem zur Zeit Willy Brandts als die Partei, die den sozialen Aufstieg ermöglicht, Arbeiterkindern Chancen eröffnet und auch die einfachen Leute in die Politik integriert, gilt sie nun wieder als Partei von Hartz IV und Agenda 2010, der sozialen Kälte und der Gleichgültigkeit. Noch hat sie keinen Weg gefunden, dieses Bild zu korrigieren.
Quelle: SZ
Anmerkung J.A.: Es ist interessant, dass die SPD “noch keinen Weg gefunden” hat, das Bild der sozialen Kälte und der Gleichgültigkeit und “nun wieder als Partei von Hartz IV und Agenda 2010″ gilt. (Warum “nun”? War die SPD zwischendurch mal nicht die “Partei von Hartz IV und Agenda 2010″?). Zum Einen *ist* die SPD die “Partei von Hartz IV und Agenda 2010″. Zum Zweiten: was bedeutet, das Bild korrigieren: noch mehr Imagekampagnen, noch mehr Pseudo-Korrekturen wie einen gesetzlichen Mindestlohn, der weder flächendeckend noch allgemein gilt? Wäre nicht der einfachste – und richtige – Weg, wenn die SPD Hartz IV und die Agenda 2010, überhaupt große Teile der Regierungszeit von 1999 bis 2007, für falsch erklären und rückabwickeln würde? Wieso findet die SPD diesen Weg nicht?
SZ/NDS