Die Näherinnen von Vashi
09.05.2013 | 14.07 | kael
Bombay Juni 1978 - 35 Jahre vor Bangladesh
Zu Hunderten hocken die Frauen gekrümmt auf ihren Schemeln - dicht an dicht, vor-, hinter- und nebeneinander. Eine riesige menschliche Legebatterie.
Mit ihren ratternden Nähmaschinen bilden sie eine fast körperliche Einheit, scheinen sprichwörtlich mit ihrem Werkzeug verwachsen.
Ihre Köpfe sind nach unten geneigt. Sie arbeiten konzentriert an ihren Maschinen, führen den Stoff routiniert unter die Nadeln, kontrollieren gleichzeitig den Verlauf der Stiche und die Sauberkeit der Nähte und trennen schließlich den Faden ab, um den gleichen Arbeitsgang mit einem neuen Stück Stoff von vorn zu beginnen.
Die Rohstücke der T-Shirts landen in einem verrotteten kleinen Holzwagen, der irgendwann abgeholt wird.
"They are five hundred ladies", es seien fünfhundert Damen, sagt Mr. Daswani, Eigentümer und Chef des Betriebes im Osten der Metropole Bombay (neu-indisch Mumbai).
Er sagt es mit Stolz in der Stimme, und er sagt tatsächlich "ladies". Das meint er nicht zynisch.
Vielleicht sagt er es, um diesen Frauen zumindest nach außen einen Rest menschlicher Würde zu verleihen. Aber daran darf gezweifelt werden, wenn man - so wie ich - in die dunklen, verhärmten, alterslosen Gesichter der Arbeiterinnen blickt. Denn die schwarzen, freudlosen Augen verheißen nichts anderes als Armut, Leidensfähigkeit, Resignation und Ergebenheit in ein unabänderliches Schicksal.
Während wir an ihren Reihen vorbei schlendern, blicken einige der Frauen kurz zu uns auf. Ich suche den Kontakt mit einem freundlichen Lächeln. Es wird nicht erwidert.
Der Lärm der fünfhundert Nähmaschinen ist unerträglich. Er tötet jeden Ansatz verbaler Kommunikation. Mit schrillen Klingeln oder durch Handzeichen werden die Aufseherinnen herbei gerufen, wenn es ein technisches Problem zu lösen, einen Fehler bei der Arbeit zu korrigieren oder eine kurzfristige Ablösung sicherzustellen gilt ...
Die klimatischen Bedingungen sind grauenhaft. Die stickige Hitze liegt schwer auf Mensch und Material. Das Atmen wird zur Qual. An der hohen Decke rotieren zwar an die zwanzig Ventilatoren. Diese aber verwirbeln die feucht-heiße Luft nur wenig, und kühlen können sie natürlich nicht.
Die Autofahrt vom Hotel "Taj Mahal", nahe dem bekanntesten Wahrzeichen Bombays, dem "Gateway of India", nach Vashi waren eine ebenso körperliche wie emotionale Strapaze. Unter der schon am Morgen erbarmungslos brennenden Sonne, quälte sich der unklimatisierte Wagen quer durch die Stadt. Nach nur zehn Minuten Fahrt war ich in Schweiß gebadet.
Schlimmer war aber der Anblick der vielen obdachlosen Menschen, die wir auf unserer Fahrt passierten. Vom Greis bis zum Säugling, ganze Familien, vegetierten auf schmalen Randstreifen entlang der Straßen, mitten auf Fußwegen oder gar auf spärlich begrünten Verkehrsinseln. Völlig ungeschützt vor Wind und Wetter fristeten sie dort ein erbarmungswürdiges Leben. Es sind Anblicke, die man nie wieder los wird.
Gegen zehn Uhr stand ich endlich vor einer geschlossenen, etwa 4 Meter hohen Eisenumzäunung, die ein offenbar riesiges Anwesen gegen Eindringlinge abzuschirmen hatte. Solche martialischen Wehren, die eher an die Abschottung eines Hochsicherheitstrakts erinnern, sind zum Schutz gegen böse Buben und die Mafia in ganz Asien durchaus übliche Vorsichtsmaßnahmen. Ein eingelassenes Tor wurde geöffnet, und zwei uniformierte, mit Schusswaffen ausgestattete Muskelmänner nahmen mich ausdruckslos in Empfang und begleiteten mich ins Innere der Festung.
Aus den gekippten Fenstern eines der Gebäude hörte ich das vertraute Schnurren einer offenbar großen Zahl von Rundstrickmaschinen. Dann kam mir Mr. Daswani entgegen, ein leger gekleideter, gut aussehender und leicht gerundeter Mittvierziger. Es war mein erster Besuch in seiner Fabrik.
Über eine offene Eisentreppe erreichen wir eine Galerie oberhalb der Fabrikationshalle. Drei große Glaskästen sind mit ihren rumpelnden Kaltluftgebläsen vergleichsweise luxuriös ausgestattet. Hier arbeitet und kontrolliert das Management.
Wen oder was es kontrolliert sehe ich nunmehr tief unter mir: Einen mit schwarzen Sprenkeln versehenen Flokati aus Menschenleibern. Die schwarzen Sprenkel sind die über ihre Maschinen gebeugten Köpfe der Näherinnen.
Und ich übersehe die gesamte Halle, deren Fläche ich auf etwa 3.000 qm schätze. Die ebenso hohen wie kahlen, schmucklosen Wände bestehen aus schmuddeligem, ursprünglich einmal weiß getünchtem Beton, der den Fabrikationslärm von allen Seiten widerhallen lässt und dadurch zusätzlich steigert. Durch die Mitte des Saals sowie an beiden Seiten sehe ich Transportwege.
Ausgemergelte junge Männer in zerschlissenen Unterhemden, verschmutzten Turnhosen und Flip-Flops rollen Stoffballen zu den jeweiligen Arbeitsplätzen oder sammeln fertig genähte Teile zur Weiterverarbeitung ein.
Mit viel Wohlwollen erkenne ich in dieser beruflichen Armseligkeit eine immer noch bessere Alternative zur Bettelei und zum hoffnungslosen Leben auf der Straße. Aber es gehört schon sehr viel Wohlwollen zu dieser Erkenntnis.
Auf der mir gegenüber liegenden Seite der Halle entdecke ich eine merkwürdige Besonderheit: In einigem Abstand vor der Betonwand reihen sich mehrere schmale, in undefinierbaren Farben gestrichene Schwingtüren - wie man sie aus Westernfilmen kennt - aneinander. Oben und unten sind sie weit offen. Deshalb verhindern sie nur mangelhaft den Einblick in die Intimität winziger, im Halbdunkel gelegener Kabinen.
Gelegentlich verschwinden Frauen hinter einer dieser Schwingtüren. Ihre Füße und Köpfe bleiben von oben aber deutlich sichtbar. Wenig später treten sie wieder heraus.
Ich sehe Mr. Daswani fragend an. Der lacht: "Wir haben keine Zeit zu verlieren", sagt er und "wir sind ein moderner Betrieb der kurzen Wege. Es sind die Toiletten."
Die aufkommende Empörung versuche ich aus meinem abendländischen Denken zu verbannen. Denn dieses Land befindet sich im industriellen Aufbruch. Schließlich bin ich als Einkäufer ja selbst hier, um daraus wirtschaftliche Vorteile zu erzielen. Wer es mit modernen europäischen Standards misst, tut ihm Unrecht. Und wer es deshalb boykottiert, hilft ihm nicht weiter sondern verhindert beides, den wirtschaftlichen und den sozialen Fortschritt.
Oder beruhige ich mit dieser Erklärung nur mein eigenes soziales Gewissen? Möglicherweise.
P.S. Zu meinen Gunsten will ich erwähnen, dass es die 70er und 80er Jahre waren, in denen ich als Textil-Einkäufer weltweit unterwegs war. Und damals war die Sensibilität für faire Arbeitsbedingungen noch wenig ausgeprägt.